Donnerstag, 9. Januar 2014

Eine Welt ohne Glühbirnen, ohne die Zauberflöte und ohne jegliches Wissen um die Grenzen von Raum und Zeit

Sie sei, so ist über die 2008 verstorbene Pina Bausch zu erfahren, in ihrer Kindheit «ein Zappelphilipp und voller Phantasie» gewesen. Die in einem Gasthaus Aufgewachsene sei jeweils, statt ins Bett zu gehen, unter einen der Wirtshaustische gekrochen und habe unbemerkt den Gesprächen der Erwachsenen gelauscht oder sei in den Garten hinausgeschlichen, um in einem verfallenen Treibhaus Theater zu spielen. Schliesslich hätten Hotelgäste den Eltern geraten, die Tochter doch ins Kinderballett zu schicken. Und so begann die Karriere jener Frau, die heute zu den bisher weltweit bedeutendsten Tänzerinnen und Choreografinnen zählt.
   Heute würde man einem solchen Mädchen, statt es in eine Ballettschule zu schicken, höchstwahrscheinlich viel eher eine tägliche Dosis Ritalin verabreichen, das ist billiger, wirkt schneller und ist erst noch viel weniger aufwendig…
   Pina Bausch, Leonardo da Vinci, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig Van Beethoven, Thomas Edison, Albert Einstein, Dustin Hoffmann, Jennifer Lopez, Christoph Kolumbus, Edgar Allan Poe, Bill Gates, Michael Jackson, Michael Phelps, Carl Lewis, Astrid Lindgren, Benjamin Franklin, Jack Nicolson, Winston Churchill, George Bernard Shaw, Salvador Dali und Abraham Lincoln – sie alle, wenn man ihre Biografien näher betrachtet, waren mit allergrösster Wahrscheinlichkeit in ihrer Kindheit das, was man heute als «ADHS-Kinder» bezeichnet – jene Kinder also, die unter der traditionellen Lehrplan- und Selektionsschule wohl noch unvergleichlich viel mehr leiden als alle anderen Kinder. Denn einen grösseren Gegensatz als den zwischen einer auf Gehorsam, Unterwürfigkeit, Konformität und Gleichschaltung ausgerichteten Schule und diesen «wild» und voller Witz und Phantasie geborenen Kinder kann man sich nun wirklich nicht mehr vorstellen. Sie, die «ADHS-Kinder», machen nicht nur Fehler, sie sind sozusagen mit allem, was sie tun, der Fehler in Person, indem sie nämlich gleich alles falsch machen, was man nur falsch machen kann: Sie reden, wenn sie zuhören sollten, sie stellen Fragen, wenn sie antworten sollten, sie rennen umher, wenn sie ruhig sein sollten, und wenn sie schlafen sollten, sind sie wach.
   Dabei wäre es gar nicht so schwierig, dies alles für einmal auch aus einer ganz anderen, entgegengesetzten Perspektive aus zu betrachten. So wie der Deutsche Bundesverband Arbeitskreis «Überaktives Kind» in einer im Jahre 2002 in Kooperation mit der Humboldt-Universität Berlin durchgeführten Studie, in der bewusst davon ausgegangen wurde, sich im Zusammenhang mit «ADHS» nicht primär auf die Defizite zu konzentrieren, sondern explizit auch Stärken und besondere Fähigkeiten der betroffenen Kinder zu erfassen. In die entsprechenden Befragungen einbezogen wurden sowohl Eltern von «ADHS-Kindern» wie auch Lehrkräfte, Kinder- und Jugendärzte. Helga Simchen, Kinderärztin und Psychotherapeutin, fasste die Ergebnisse dieser Studie wie folgt zusammen: «ADHS-Kinder denken assoziativ und vielschichtig, sie können mithilfe ihrer Fantasie ganz neue Wahrnehmungen erzeugen. Sie sind in der Lage, alles zu durchschauen und direkt zu hinterfragen; sie sind hellwach, wenn etwas sie interessiert. Ihnen kann man nichts vormachen, ihnen entgeht nichts. Sie hören und sehen mehr, als für andere wahrnehmbar ist. Ist ihr Interesse einmal geweckt, ist ihre Wissbegierde riesengross. Sie können sich dann sehr gut konzentrieren und Hervorragendes leisten. Sie besitzen einen Scharfblick mit starker Intuition, wie ihn sonst keiner hat. Sie können auch Gedachtes als real erleben, dank ihrer guten Fantasie. Sie denken vorwiegend visuell, das heisst, sie stellen sich alles in Bildern vor, da sie sich diese besser einprägen können. Ausgerüstet mit einem guten Selbstbewusstsein können Menschen mit ADHS gerade aufgrund ihrer aussergewöhnlichen Fähigkeiten in ihrem Leben Grosses vollbringen.»
   Sollen Schulen dereinst durch Lernzentren ersetzt werden, so müsste dies nur schon alleine diesen Kindern zuliebe geschehen. Denn es reicht bei weitem nicht aus, solchen «schwierigen», «auffälligen» oder «andersartigen» Kindern bloss ein wenig mehr Raum, ein wenig mehr Zuwendung und ein wenig mehr Liebe zu geben. Es reicht erst recht auch nicht aus, «störende» oder «lästige» Verhaltensweisen auf irgendeine auch noch so «sanfte» und «humane» Weise «wegzutherapieren». Nein, es geht um etwas grundsätzlich anderes. Nämlich darum, die bisherige Sichtweise buchstäblich auf den Kopf zu stellen: auszugehen davon, dass die «Wahrheit» nie in irgendeiner von Menschen geschaffenen Institution liegen kann, und sei sie noch so ausgeklügelt und «perfekt», sondern immer nur bei jedem einzelnen Kind, das hier und heute neu geboren wird und in diesem Augenblick uns allen, die schon hier sind, die Chance bietet, alles Bisherige neu und anders zu sehen. Oder könnten wir uns allen Ernstes eine Welt erwünschen, in der sich alle Menschen immer ähnlicher werden, kein Kind mehr nachts unter den Tisch der Erwachsenen kriecht, um heimlich ihren Gesprächen zu lauschen, niemand mehr sich nächtelang den Kopf zerbricht um irgendetwas gerade noch so Unvorstellbares zu erfinden wie Glühbirnen oder neue Gesetze für die Unendlichkeiten von Raum und Zeit, nie mehr so wundervolle Kunstwerke geschaffen werden wie die Mona Lisa oder die Zauberflöte und kein Mensch mehr auf so verrückte Ideen kommt wie auf geografischen Karten Länder und Kontinente einzuzeichnen, die es in der Wirklichkeit noch gar nicht gibt?

(Auszug aus meinem Buch LERNZENTREN STATT SCHULEN - EIN PÄDAGOGISCHES MODELL FÜR DIE ZUKUNFT, das voraussichtlich im Frühsommer 2014 erscheinen wird.)

1 Kommentar:

  1. Occupy Pharma: https://www.facebook.com/pages/Occupy-Pharma/729922580369520

    AntwortenLöschen