Mittwoch, 30. April 2014

Das Rädchen und die Maschine

Könnte die Festschreibung eines gesetzlichen Mindestlohns dazu führen, dass zahlreiche Kleinbetriebe schliessen müssten, weil sie nicht mehr konkurrenzfähig wären bzw. weil sie schlicht und einfach nicht genug Geld verdienen, um allen ihren Angestellten einen Stundenlohn von mindestens 22 Franken zahlen zu können? Könnte die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns deshalb dazu führen, dass zahlreiche Arbeitsplätze verloren gingen?
   Nur schon dass solche Fragen in der aktuellen Diskussion um die Mindestlohninitiative eine wichtige Rolle spielen, zeigt, wie krank unser Wirtschaftssystem ist. Offensichtlich müssen zu seiner Aufrechterhaltung mindestens ein Zehntel aller Erwerbstätigen darauf verzichten, selbst bei voller Erwerbstätigkeit und härtestem Arbeitseinsatz einen genug grossen Lohn zu bekommen, um davon einigermassen anständig leben zu können. Während gleichzeitig die Einkommen und Vermögen all jener, die bereits jetzt um ein Vielfaches reicher sind, weiter und weiter unaufhaltsam in die Höhe wachsen…
   Deshalb geht es in der Abstimmung vom 18. Mai nicht nur um den Mindestlohn. Es geht vor allem auch um die Frage nach den Grundlagen und den Gesetzmässigkeiten der gesamten Arbeitswelt und der gesamten Geld- und Wirtschaftsordnung, der wir unterworfen sind und die man aufgrund ihrer immer drastischer zutage tretenden Widersprüche eigentlich schon längst nicht mehr als «Ordnung», sondern, viel zutreffender, als «Unordnung» bezeichnen müsste.
   Diese kapitalistische Wirtschafts-Unordnung ist eine komplexe Riesenmaschine, bei der alles mit allem ineinander verzahnt ist. Einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, bedeutet im besten Falle, ein einzelnes kleines Rädchen dieser Riesenmaschine auszuwechseln bzw. ein wenig langsamer drehen zu lassen. Die Folge – so lange am Grundmechanismus der Maschine nichts geändert wird – ist klar: Alle anderen Rädchen werden sich danach nur umso schneller drehen und die Auspressung der Werktätigen durch die Besitzenden wird an tausend anderen Stellen nur umso unerbittlicher ihren Fortgang nehmen.
   Ist es aufgrund solcher Überlegungen völlig unwichtig und überflüssig, sich für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns einzusetzen? Natürlich nicht. Jeder Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit, und sei er noch so klein, ist ein guter Schritt. Aber selbst wenn der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns die Mehrheit der Bevölkerung zustimmen würde und selbst wenn die 1:12- Initiative angenommen worden wäre und selbst wenn noch viele, viele weitere ähnliche Ideen und Initiativen erfolgreich wären – es würde alles nicht genügen, so lange wir nicht mit ebenso viel Aufwand und Tatkraft für den Aufbau einer von Grund auf neuen Wirtschaftsordnung arbeiten, die nicht mehr auf Ausbeutung und Profitmaximierung ausgerichtet ist, sondern auf die realen Lebensbedürfnisse von Mensch und Natur heute und in Zukunft.

Dienstag, 29. April 2014

Verdrehung historischer Tatsachen

EU-Korrespondent Stephan Israel nennt im heutigen «Tages-Anzeiger» die EU eine «Friedensmacht», die angesichts «Putins geopolitischer Machtspiele» gegenwärtig, in der Ukraine, «an ihre Grenzen stosse». Was für eine Verdrehung historischer Tatsachen! Immerhin sind mit der ehemaligen DDR, Tschechien, Polen, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, der Slowakei, Bulgarien und Rumänien zehn der seit 1990 in die EU aufgenommenen Länder, die früher alle dem Warschauer Pakt angehörten, heute Mitglieder der NATO, jenes westlichen Militärbündnisses, das sich mit seinen Kriegseinsätzen gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Libyen nicht nur über sämtliche Bedenken und Widerstände Russlands hinweggesetzt, sondern auch immer wieder gegen internationales Völkerrecht verstossen hat. Wer betreibt da «geopolitische Machtspiele» und wer kann sich mit gutem Gewissen eine «Friedensmacht» nennen? Man stelle sich einmal das Umgekehrte vor: Die Sowjetunion wäre 1991 nicht zu Ende gegangen und Deutschland, Österreich, Griechenland und Jugoslawien wären heute Mitglieder des Warschauer Pakts. Würden sich da die verbliebenen EU- bzw. NATO-Staaten nicht auch mit allen Mitteln gegen ein weiteres Vordringen der sowjetischen Machtsphäre zu wehren versuchen?

Samstag, 26. April 2014

Alles auf alle verteilt

Das ist meine Vision einer neuen Zeit: Es ist weltweit alles auf alle gleichmässig verteilt, Nahrung, Wohnraum, Anteil an den natürlichen Ressourcen, Arbeit, Wohlstand, Zugang zu Wissen und Bildung, Lebensglück, Spiel und Kunst, Freiheit, Frieden. Und weil das so einfach ist und so einleuchtend und so sehr in Übereinstimmung mit der innersten Sehnsucht jedes Menschen zum Zeitpunkt seiner Geburt, muss es, wenn erst einmal jegliche Fremdbestimmung überwunden ist, eines Tages Wirklichkeit werden. «Eine andere Welt», sagt die indische Schriftstellerin Arundhati Roy, «ist nicht nur möglich, sie ist im Entstehen. An einem ruhigen Tag kann ich, wenn ich sehr genau hinhöre, ihren Atem hören.»

Dienstag, 8. April 2014

Der Islam eine Krankheit?

Der ägyptische Autor Hamed Abdel-Samad vertritt in einem im heutigen «Tages-Anzeiger» veröffentlichten Interview die These, dass «der Islam aus verschiedenen Gründen faschistische Züge aufweist: Er unterteilt die Welt in Gläubige und Ungläubige; er schliesst Andersdenkende aus; er strebt die Weltherrschaft an; er tötet seine Gegner». Und weiter: «Die Quelle der Krankheit liegt im Ursprung des Islam. Das Problem der islamischen Welt ist, dass man entweder nicht anerkennen will, dass man krank ist, oder dass man stets die falsche Diagnose stellt und deshalb zur falschen Medizin greift.»
   Wenn Abdel-Samad Moslems und Islamisten unbesehen in den gleichen Topf wirft, macht er genau das Gleiche, was er dem Islam zum Vorwurf macht, nämlich die Welt in «Gut» und «Böse» einzuteilen, nur dass für ihn der Islam das Böse ist und der Rest der Welt das Gute. Zudem widerspricht er sich, wenn er einerseits sagt, das Christentum sei früher auch gewalttätig und kriegerisch gewesen, habe sich aber über die Jahrhunderte zu einer aufgeklärten Religion weiterentwickelt, während er dem Islam jegliche Chance zu einer ähnlichen Entwicklung abspricht mit der Begründung, der Islam sei schon von seiner «Quelle» an eine «Krankheit». Völlig einseitig und verzerrend auch sein Hinweis auf Beziehungen Adolf Hitlers zu islamistischen Gruppen wie etwa der Muslimbrüderschaft. Objektiverweise müsste Abdel-Samad dann nämlich auch auf die Beziehungen Hitlers zum Christentum hinweisen und in Erinnerung rufen, dass Hitler seinen Antisemitismus und damit den Völkermord an den Juden zum «Willen Gottes» und sich selber zu dessen Vollstrecker erklärte: «Indem ich mich der Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.»
   Glaubwürdiger wäre es, wenn Abdel-Samad nicht eine einzige Religion, den Islam, anprangern würde, sondern den Fundamentalismus als solchen, der sich in jeder Religion und Weltanschauung verstecken kann. Wenn er nämlich dem Islam vorwirft, «die Welt in Gläubige und Ungläubige zu unterteilen» und «Andersdenkende auszuschliessen», dann müsste er gar nicht so weit suchen, denn das tun zum Beispiel auch die Evangelikalen inmitten unseres so genannt «modernen» und «aufgeklärten» Christentums. Auch die Behauptung Abdel-Samads, es gäbe «keinen moderaten Islam», ist schlicht und einfach falsch. So gibt es zum Beispiel in der Schweiz gemäss einer Studie der ETH-Forschungsstelle für Sicherheit gerade mal einige Dutzend gewaltbereite Islamisten, und dies bei einer Gesamtzahl von rund 450‘000 in der Schweiz lebenden Moslems!
   Hamed Abdel-Samad lobt die Aufklärung, die Menschenrechte, den Fortschritt und die Demokratie. Er selber tut mit seinen einseitigen und diffamierenden Ausführungen, der Angstmacherei und dem Schüren von Feindbildern genau das Gegenteil.

Montag, 7. April 2014

Wenn es still wird

Sie schreien kreuz und quer
schlagen sich Parolen und jegliche Art
vermeintlicher Wahrheiten um die Köpfe
stampfen sich rechthaberisch gegenseitig in
Grund und Boden
sprechen
taub verschiedene Sprachen
reden aneinander vorbei
und doch
wenn es still
wird
am Morgen früh die Vögel
wenn es still wird
über alle Grenzen hinweg
im Osten wie im Westen
im Norden wie im Süden
wenn es still wird
sprechen
über Nacht
alle Menschen die
GLEICHE SPRACHE
singen das
GLEICHE LIED der
unendlichen Sehnsucht nach
LIEBE.

Samstag, 5. April 2014

Die Maus und der Elefant oder die seltsame EU-Phorie der Linken

Seit über 20 Jahren ist die Frage, ob die Schweiz nicht doch noch früher oder später Mitglied der Europäischen Union werden sollte, eines, um nicht zu sagen das grosse, regelmässig wiederkehrende, grösste Emotionen auslösende Hauptthema der gesamtschweizerischen Politdiskussion. Je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, gehört man zu einem von zwei Blöcken, an deren einem äussersten Ende die SVP mit einer konsequent ablehnenden Position und an deren anderem äussersten Ende die SP mit einer ebenso konsequent zustimmenden Position stehen. Und je nachdem, welchem dieser beiden Blöcke man sich zugehörig fühlt, beschwört man dann die «Rettung nationaler Eigenständigkeit und Selbstbestimmung» oder aber die «grenzüberschreitende Öffnung» sowie die «Mitgestaltung eines gesamteuropäischen Wirtschaftsraums» als das allerhöchste Ziel, dem alle anderen unterzuordnen seien.
    Doch Hand aufs Herz: Ist da nicht, über mehr als 20 Jahre hinweg, eine Maus nach und nach zu einem Elefanten herangewachsen? Was macht denn diesen Unterschied, ob die Schweiz ein Mitglied der EU ist oder nicht, überhaupt noch aus? Sind wir, ohne es zu wollen und obwohl wir uns noch immer so erbittert mit Argumenten und Gegenargumenten die Köpfe einschlagen, nicht sowieso schon längst ein Mitglied der EU? Zwar nicht formell und nicht auf dem Papier und nicht gemäss irgendeinem offiziell unterzeichneten Staatsvertrag, aber umso mehr ganz faktisch und real. Denn wo, bitte, unterscheidet sich die Schweiz in der gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Alltagsrealität noch grundsätzlich von irgendeinem der EU-Länder? Ist nicht alles schon längst – EU hin oder her – nichts anderes als ein riesiger, nicht nur europaweit, sondern weltweit nach sich immer ähnlicher werdenden Regeln und Gesetzmässigkeiten funktionierender Machtkoloss genannt Kapitalismus? Fühlen sich Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Apartheid in der Schweiz bloss deshalb, weil wir kein EU-Land sind, für die davon Betroffenen weniger schmerzvoll an als in Italien, Frankreich oder Griechenland? Tut es einer Schweizer Familie, die nach 20 Jahren infolge einer massiven Mietzinserhöhung ihre liebgewordene Wohnung am Stadtrand verlassen muss, weniger weh, als es einer Familie in Spanien oder Portugal wehtut, wenn sie vom gleichen Schicksal betroffen ist? Fressen sich die Bagger, Betonflächen und Bürohäuser hierzulande weniger aggressiv als in Belgien, Dänemark oder den Niederlanden bis in die letzten noch unüberbauten Gebiete vor? Nehmen die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen den Reichsten und Ärmsten hierzulande weniger schnell zu als in Grossbritannien, Lettland oder Österreich? Und ist es nicht so, dass selbst die letzten Schweizer «Eigenheiten» im Bereich öffentlicher Dienstleistungen und sozialer Sicherheiten, die uns bisher noch vom übrigen Europa unterschieden haben, ebenfalls im Begriffe sind, wegzuschmelzen wie ein paar letzte Reste Schnee im Frühling, nicht zuletzt deshalb, weil – Gipfel der Absurdität – ausgerechnet jene, die sich als die vermeintlichen «Retter» schweizerischer «Selbstbestimmung» im Kampf gegen die «Mächte von aussen» aufspielen, die kapitalistische Keule so genannter «Effizienzsteigerung» gar noch um einiges unerbittlicher sausen lassen als ihre politischen «Gegner».
   Dass die «Rechte» dieses falsche Spiel um eine Frage, die faktisch längst beantwortet ist, munter weitertreibt, ist ja – angesichts der daraus resultierenden Abstimmungserfolge – durchaus verständlich. Die «Linke» aber täte wohl gut daran, sich aus der Scheindiskussion über mögliche Vor- und Nachteile eines EU-Beitritts so rasch wie möglich zu verabschieden und sich auf jene politischen Fragen und Themen zu konzentrieren, die tatsächlich von Bedeutung sind für das Wohlergehen der Menschen, nicht innerhalb oder ausserhalb bestimmter Grenzen, seien es schweizerische oder europäische, sondern über alle Grenzen hinweg in einer Welt, in der wir alle im gleichen Boot sitzen. Denn, wie es Martin Luther King dereinst so treffend formulierte: «Entweder lernen wir, als Brüder und Schwestern miteinander zu überleben, oder aber, wir werden als Narren miteinander untergehen.»

Dienstag, 1. April 2014

Sozialismus gescheitert?

Wenn Michael Hermann in seinem Kommentar im heutigen «Tages-Anzeiger» der SP und insbesondere den Juso vorhält, ihre ehemaligen sozialistischen Vorbilder wie Kuba, Venezuela oder die DDR seien allesamt gescheitert, dann heisst dies noch lange nicht, dass der Kapitalismus die einzige mögliche Wirtschaftsform ist, die eine Zukunft hat. Im Gegenteil. Der Kapitalismus kann nur schon deshalb längerfristig keine Zukunft haben, weil er mit seinem Dogma eines unbeschränkten Wirtschaftswachstums früher oder später die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen derart umfassend und unwiederbringlich zerstört haben wird, dass an ein Weiterleben der Menschheit auf diesem Planeten nicht mehr zu denken sein wird. Wir brauchen daher dringender denn je eine Alternative zum Kapitalismus. Ob man diese als «sozialistisch» bezeichnen möchte, ist nicht die entscheidende Frage. Das Entscheidende ist, dass es sich um eine von Grund auf neue und andere Wirtschaftsordnung handeln muss, die sich nicht mehr an den immer absurdere Ausmasse annehmenden Gewinnerwartungen des Kapitals orientiert, sondern an den realen Lebensbedürfnissen von Mensch und Natur in Gegenwart und Zukunft.