Donnerstag, 30. Januar 2014

Eine Selektionsschule kann nicht zugleich eine Lernschule sein

Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, dass eine Selektionsschule zugleich eine Lernschule ist. Die schulische Selektion ist der Todfeind jenes Lernens, das in den ersten Lebensjahren bei allen Kindern so hoffnungslos und so erfolgreich begonnen hatte. Und es gibt kein «anderes» Lernen als dieses. Das stürzt nicht nur die Kinder in der Schule in ein unausweichliches Dilemma, sondern auch die Lehrkräfte. Ihre – pädagogische – Aufgabe würde ja eigentlich darin bestehen, den Kindern möglichst viel Wissen und möglichst viele Fertigkeiten beizubringen und ihnen alles so gut zu erklären und alles so lange und gründlich zu üben, bis alle Kinder alles könnten. Die Folge wäre, dass alle Kinder, wenn man denn ihre Lernleistungen überhaupt noch mit Noten messen müsste, schliesslich die Bestnote erhalten würden. Der Lehrer weiss aber von Anfang an, dass ihm dies gar nicht erlaubt wäre. Der Selektionsauftrag zwingt ihn dazu, zu viel Stoff zu vermitteln, zu wenig gründlich zu erklären und zu wenig Zeit zu geben, denn nur so kann er seine Klasse in «gute» und «schlechte» Schülerinnen und Schüler unterteilen. So absurd ist dieses System, dass ein Lehrer, wenn eine Prüfung zu «gut» ausfällt, in aller Regel gezwungen ist, im Nachhinein den Notendurchschnitt künstlich zu senken, indem er den Bewertungsmassstab so weit nach unten drückt, bis der Notendurschnitt mit ungefähr 4,5 dort liegt, wo er «normalerweise» liegen sollte. Mit anderen Worten: Er muss seine Schülerinnen und Schüler nachträglich dafür bestrafen, dass sie zu viel, zu gut und zu gründlich gelernt haben bzw. er sie bei ihrem Lernen zu gut und zu erfolgreich unterstützt hat.
   Das Dilemma, in dem sich die Lehrkräfte befinden, geht aber noch viel weiter. Ständig sind sie gezwungen, die Kinder zu belügen und ihnen etwas vorzugaukeln, was sie – als deren «Vorbilder»! – gleichzeitig selber vor deren Augen täglich mit Füssen treten. Sie bemühen sich den Kindern weiszumachen, alle könnten alles lernen, wenn sie sich nur genug anstrengten, dabei wissen sie ganz genau, dass sie ihren Unterricht so gestalten müssen, dass es gar nicht möglich ist, dass alle alles lernen können. Was wiederum zur Folge hat, dass jene Kinder, die das Ziel ihres Lernens nicht erreichen, daraus den Schluss ziehen, sie seien selber daran schuld – der Lehrer hat ihnen ja nie erklärt, dass der Grund ganz ein anderer ist. Die zweite grosse Lüge der Lehrer ist die, dass sie bei jeder Gelegenheit an das «soziale Verhalten» der Kinder appellieren, die Wichtigkeit der «Sozialkompetenz» betonen und die Kinder dazu anspornen, kameradschaftlich zu sein und einander zu helfen – während sie sie gleichzeitig einem gnadenlosen gegenseitigen Konkurrenzkampf um Noten und Zukunftschancen aussetzen, bei dem es letztlich um nichts anderes geht als darum, unbedingt als «Sieger» und auf keinen Fall als «Verlierer» hervorzugehen. Besonders drastisch zeigt sich das immer dann, wenn der gleiche Lehrer, der seine Schülerinnen und Schüler soeben zu Hilfsbereitschaft und gegenseitiger Anteilnahme ermahnt hat, ohne mit der Wimper zu zucken dem erstbesten Schüler, den er dabei erwischt, wie er während einer Prüfung einem anderen einen Notizzettel zuschiebt, eine Strafstunde aufbrummt oder sein Prüfungsergebnis für ungültig erklärt.
   Die staatliche Volksschule war seit ihren ersten Anfängen bis heute nie etwas anderes als eine Selektionsschule. Daran haben auch die zahlreichen kleineren und grösseren «Reformen», welche im Laufe der Zeit der Schule nach und nach ein neues, «moderneres» Gesicht zu verleihen versucht haben, nicht grundlegend etwas verändert, der innerste Kern ist immer noch genau der gleiche. Wenn die Schule als Selektionsschule zu Ende gehen soll, um einer echten Lernstätte Platz zu machen, dann bedeutet dies daher weit mehr als eine weitere Reform im Zuge vieler anderer. Wenn die Selektionsschule zu Ende geht, dann geht auch fast alles andere, was Schule heute noch ausmacht, zu Ende. Wie ein Kartenhaus, das in sich zusammenfällt, weil es an der Zeit ist, nicht nur die alt gewordenen Karten, sondern auch das Fundament, auf dem sie aufgebaut wurden, auszuwechseln und das Ganze von Grund auf neu aufzubauen…

(Auszug aus meinem Buch LERNZENTREN STATT SCHULEN - EIN PÄDAGOGISCHES MODELL FÜR DIE ZUKUNFT, das voraussichtlich im Frühsommer 2014 erscheinen wird.)

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