Dienstag, 26. November 2013

Verschiedene Ansichten über das Unglaubliche

G.H. hat in unserer Lokalzeitung einen Leserbrief geschrieben mit dem Titel «Unglaublich!». Darin ereifert er sich darüber, dass Flüchtlinge aus Syrien in Bern für ein Aufenthaltsrecht in der Schweiz demonstriert hätten. Die sollten, schreibt er, froh sein, dass sie überhaupt hier sein dürfen, und: «wenn es ihnen nicht passt, sollen sie verschwinden».
   Unglaublich finde ich es auch. Aber nicht, dass syrische Flüchtlinge dafür kämpfen, in der Schweiz bleiben zu dürfen, um nicht mehr in ihr kriegszerstörtes Land zurückkehren zu müssen, denn jeder von uns würde in der gleichen Situation genau das Gleiche tun. Unglaublich finde ich vielmehr, dass dieser Krieg bereits über 100‘000 Tote gefordert hat. Unglaublich finde ich, dass der Irak bereits 200‘000, die Türkei 510‘000, Jordanien 540‘000 und Libanon sogar 810‘000 syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, ohne dass die Bevölkerung der betroffenen Länder der Aufnahme dieser Flüchtlinge bisher massiven Widerstand entgegensetzt hätte. Unglaublich finde ich, dass im syrischen Bürgerkrieg sogar schon Kleinkinder gefoltert werden, Hunderttausende geflüchtete Familien über den Winter in ungeheizten Zelten und fast ohne Lebensmittel ausharren müssen und im Norden Syriens infolge fehlender Impfstoffe sogar die Kinderlähmung wieder ausgebrochen ist – um nur einige wenige unzähliger Schreckensmeldungen zu nennen, die täglich in unseren Medien zu lesen und zu hören sind.
   Damit alle diese Unglaublichkeiten ein möglichst rasches Ende finden, muss endlich an einer internationalen Konferenz mit allen beteiligten Parteien eine friedliche Lösung für die Zukunft Syriens gefunden werden. Wir alle können dazu etwas beitragen, indem wir den Bundesrat dazu auffordern, alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit die auf Ende Januar in Genf geplante Friedenskonferenz nicht noch einmal auf einen unbestimmten Zeitpunkt hinausgeschoben wird.

Samstag, 23. November 2013

Von der 1:12-Initiative zur 1:1-Initiative

Unabhängig davon, ob die 1:12-Initiative in der morgigen Volksabstimmung angenommen wird oder nicht: Wohl noch nie stand die Frage nach der Lohngerechtigkeit über eine so lange Zeit im Zentrum der öffentlichen schweizerischen Politdiskussion. Und dass dies ein Thema ist, das nicht nur die Schweiz bewegt, zeigt sich am grossen internationalen Echo auf die 1:12-Initiative: In Deutschland, Grossbritannien, Italien, Spanien und Griechenland haben verschiedene Medien über das schweizerische Volksbegehren berichtet, in den USA widmete gar das renommierte «Wall Street Journal» der 1:12-Initiative einen Artikel, ein südkoreanischer Fernsehsender brachte ebenfalls einen Beitrag zu diesem Thema und linke Organisationen in Italien, Frankreich, Portugal, Deutschland, Österreich und Kosovo haben Interesse an der 1:12-Forderung signalisiert, während die spanischen Sozialisten sie sogar bereits in ihr Wirtschaftsprogramm aufgenommen haben.
   Die Diskussion über die Lohngerechtigkeit wird daher am 24. November 2013 wohl kaum zu Ende sein, sondern aller Voraussicht nach erst so richtig losgehen.
   Doch was ist ein wirklich gerechter Lohn? Ist ein Verhältnis von 1:12 zwischen Tiefst- und Höchstlöhnen nicht ebenso willkürlich und damit letztlich auch ungerecht wie ein Verhältnis von 1:20 oder 1:6? Kann jemand zwölf Mal mehr leisten als ein anderer? Kann eine bestimmte Arbeit zehn Mal, drei Mal oder doppelt so «wertvoll» sein wie eine andere? Wäre das einzige wirklich Logische und Gerechte nicht erst ein Verhältnis von 1:1, ein «Einheitslohn» also?
   Nehmen wir zum Beispiel einen Vermögensverwalter. Um seinen lukrativen Job ausüben zu können, der ihm am Ende jedes Monats ein weit überdurchschnittliches Einkommen beschert, ist der Vermögensverwalter auf eine Vielzahl von Tätigkeiten angewiesen, die von anderen Menschen unterschiedlichster Berufsrichtung erbracht werden. Denken wir nur etwa an das Gebäude, in dem der Vermögensverwalter sein Büro eingerichtet hat. Dieses Gebäude würde nicht stehen, wenn es all jene Maurer, Zimmerleute, Gipser, Architekten, Kranführer, Bauzeichnerinnen, Elektriker, Malerinnen, Bodenleger, Lüftungsspezialisten, Dachdecker, Heizungs- und Sanitärinstallateure nicht gäbe, die es geplant, gebaut und ausgestattet haben. Oder das Auto, welches es dem Vermögensverwalter erlaubt, jederzeit und an jedem beliebigen Ort Kundenbesuche zu tätigen – wiederum ist es eine fast unübersehbare Vielzahl an Berufsleuten, von den Fliessbandarbeitern in der Autofabrik über Designer und Motorenbauer bis zu den Automechanikern, die mit ihrer täglichen Arbeit gewährleisten, dass Autos nicht nur hergestellt werden, sondern auch jederzeit in fahrtüchtigem Zustand verbleiben, während gleichzeitig unzählige Bauarbeiter damit beschäftigt sind, Strassen, Tunnels und Brücken zu erstellen bzw. instand zu halten, damit Berufstätige wie der Vermögensverwalter einen möglichst geringen Teil ihrer Arbeitszeit für das Bewältigen der Distanzen zwischen den einzelnen Kunden aufzubringen haben. Aber auch das ist längst noch nicht alles. Höchstwahrscheinlich besucht der Vermögensverwalter seine Kunden nicht nackt. Seine gesamte Ausstattung an Kleidern, Schuhen, Accessoires, seine Brille, das Duschmittel, der Rasierapparat, sein Aktenkoffer, der Papierblock, der Kugelschreiber, die Kaffeetasse, der Regenschirm – alles und jedes musste von irgendwem irgendwo erst einmal hergestellt worden sein. Zudem ist nicht davon auszugehen, dass sich der Vermögensverwalter von Luft ernährt. Beginnt sein Arbeitstag, haben bereits Tausende von Bauern und Landarbeiterinnen, Bäcker, Metzger, Arbeiterinnen und Arbeiter in Zuckermühlen, Teigwaren- und Getränkefabriken, Lastwagenfahrer und Angestellte in den Supermärkten ein Riesenpensum Arbeit geleistet, damit sich der Vermögensverwalter mindestens dreimal täglich vielseitig und ausreichend ernähren kann, um seine Arbeit mit vollen Kräften und bei bester Gesundheit leisten zu können. Und falls er dennoch eines Tages ernstlich erkranken oder gar von einem Unfall betroffen sein sollte, steht ihm von der Apothekerin und der Physiotherapeutin über die Krankenschwester bis zum Augenarzt oder dem Chirurgen wiederum ein Riesenheer an extra hierfür ausgebildeten Berufsleuten zur Verfügung, die dafür sorgen, dass der Vermögensverwalter seine Arbeit so schnell wie möglich wieder aufnehmen kann. Wir könnten jetzt noch von der Coiffeuse des Vermögensverwalters sprechen, von der Verkäuferin, welche ihn bei der Wahl einer neuen Krawatte berät, von den Mitarbeiterinnen des Callcenters, die seine telefonischen Anfragen an die richtigen Stellen weiterleiten, vom Informatiker, der für ihn stets die neuesten Computerprogramme installiert, von den Männern von der Kehrichtabfuhr oder vom Schneeräumungsdienst, die dafür sorgen, dass die Aus- und Einfahrt zu seinem Parkplatz jederzeit ungehindert passierbar ist, von den Angestellten des öffentlichen Abwasserdienstes, welche Kanäle und Abwasserrohre von Abfall befreien, damit es keine Überschwemmungen gibt, von den Köchen und den Kellnerinnen in dem Spezialitätenrestaurant, wo er sich mit Kunden oder Geschäftspartnern regelmässig zum Arbeitslunch trifft – die Liste all jener Menschen, ohne deren Arbeit der Vermögensverwalter seine eigene berufliche Tätigkeit nicht einen einzigen Tag lang ausüben könnte, liesse sich ins schier Unendliche ausdehnen und man könnte wohl leicht damit ein ganzes Buch füllen.
   Eigentlich wäre es daher bloss ein selbstverständliches Gebot der Fairness, wenn der Vermögensverwalter zumindest einen Teil seines weit überdurchschnittlichen Einkommens, welches er am Ende jedes Monats auf seinem Konto hat, an all jene weitergeben würde, die mit so viel Einsatz und Fleiss dazu beigetragen haben, dass er seine Tätigkeit überhaupt ausüben kann. Man könnte nun lange und ausführlich darüber diskutieren, wie gross der Anteil sein müsste, den er von seinem Einkommen dafür abzweigen müsste, damit er ein gutes Gewissen haben könnte, sich nicht auf Kosten anderer bereichert zu haben. Eigentlich gibt es darauf nur eine einzige wirklich logische, einleuchtende Antwort: Er müsste von seinem eigenen Einkommen genau so viel abziehen und an alle, die ihm zu dessen Erzielung verholfen haben, weitergeben, bis alle – inklusive er selber – den gleichen Anteil am gesamten Einkommen aller hätten. Denn der Vermögensverwalter ist ja nicht der Einzige, der sich an der Arbeit anderer bereichert. Alle sind auf berufliche Tätigkeiten unzähliger anderer angewiesen, damit sie ihre eigene berufliche Tätigkeit ausüben können. Alle bereichern sich deshalb auf Kosten anderer. Ausser natürlich jene, die einen – im Quervergleich mit sämtlichen anderen Berufen – unterdurchschnittlichen Lohn verdienen. Bei ihnen ist es genau umgekehrt. So wie alle überdurchschnittlich Verdienenden sich auf Kosten anderer bereichern, so wird allen unterdurchschnittlich Verdienenden ein Teil ihres Lohnes, auf den sie eigentlich Anspruch hätten, vorenthalten. Wenn wir daher auf diesem Gedankenweg schliesslich zur Forderung nach einem Einheitslohn gelangen, dann ist das bloss so etwas Simples und Logisches, wie es zum Beispiel in jedem afrikanischen Dorf üblich war, bevor das Land von den Europäern erobert wurde: Kamen die Männer gegen Abend von der Jagd nach Hause – der eine hatte zwei Affen gefangen, der andere nur einen, wieder einer gar vier und andere überhaupt keinen –, dann wurde das erlegte Fleisch in genauso viele gleich grosse Stücke zerlegt, dass alle Männer, Frauen und Kinder des Dorfes den genau gleich grossen Anteil daran zu essen bekamen.
   Denken wir das Ganze logisch weiter, dann müsste ein Einheitslohn freilich nicht nur innerhalb eines einzelnen Landes, sondern weltweit gelten. Denn, um auf das Beispiel unseres Vermögensverwalters zurückzukommen: Höchstwahrscheinlich stammt mindestens die Hälfte aller Lebensmittel, die er verzehrt, von Ländern ausserhalb der Schweiz, Abertausende Menschen von Spanien über Tunesien und Brasilien bis nach Australien und Vietnam haben schwerste Arbeit dafür geleistet, dass sich der Vermögensverwalter jeden Tag so abwechslungsreich und üppig ernähren kann. Eine unabsehbare Zahl von hart arbeitenden und wenig verdienenden Frauen in Rumänien, Bangladesch und China haben all die Kleider genäht, mit denen sich der Vermögensverwalter bei seinen Kunden so elegant präsentiert. Weder sein Computer, sein Smartphone noch sein Auto stünden ihm zur Verfügung, wenn sie nicht von Arbeiterinnen und Arbeitern in Taiwan, Japan, Südkorea oder China mit einem Riesenaufwand an Fleiss, Sorgfalt und Präzision hergestellt worden wären und wenn nicht unzählige Männer in Chile, Polen oder Südafrika jeden Tag ihr Leben aufs Spiel setzten, um noch aus den gefährlichsten Gruben und Schächten tief unter der Erde all jene Metalle und Stoffe ans Tageslicht zu befördern, welche zur Herstellung aller dieser Geräte unerlässlich sind. Mit jedem Dollar, der über dem weltweiten Durchschnittslohn liegt, bereichert sich der Vermögensverwalter Tag für Tag auf Kosten anderer. Mit jedem Dollar, den ein Kaffeebauer in Costa Rica, ein Kohlearbeiter in Argentinien oder eine Teppichknüpferin in Pakistan weniger verdient als den weltweiten Durchschnittslohn, wird ihnen allen jener gerechte Anteil am globalen wirtschaftlichen Gesamtgewinn vorenthalten, der sich ohne ihre tägliche Plackerei und ihr tägliches Elend in Sekundenbruchteilen in Nichts auflösen würde.
   «Der Unterschied zwischen so genannt höherer – gut bezahlter – und so genannt einfacherer – schlecht bezahlter – Arbeit», sagte Karl Marx, «beruht auf blossen Illusionen und hat einzig und allein mit der hilfloseren Lage derer zu tun, die weniger Macht haben, den echten Wert ihrer Arbeit zu ertrotzen.» Was sollte man dem noch beifügen. Höchstens vielleicht noch so viel: Die nächste Initiative kommt bestimmt. Vielleicht ist es ja dann eine 1:1-Initiative. Aber eine, die nicht nur innerhalb jedes einzelnen Unternehmens Gültigkeit haben soll. Und auch nicht nur innerhalb eines einzelnen Landes. Sondern weltweit.

Samstag, 16. November 2013

Auch Gleichgültigkeit kann tödlich sein

Wir sind uns alle einig und es würde uns nicht im Entferntesten einfallen, dies in Frage stellen zu wollen: Was zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus all jenen Menschen angetan wurde, die verfolgt, zu Sklavenarbeit gezwungen, grausamsten Experimenten ausgesetzt und in den Konzentrationslagern vernichtet wurden, gehört zu den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Und immer noch wundern wir uns darüber, dass ein zivilisiertes Volk wie das der Deutschen dies alles zulassen konnte, es so wenig Widerstand dagegen gab und sich so viele «normale» Bürgerinnen und Bürger als Mittäter und Mitverantwortliche missbrauchen liessen.
   Aber sind wir heutigen «zivilisierten» und «normalen» Bürgerinnen und Bürger so viel besser? Wissen wir nicht auch, dass wir Teil eines weltweit herrschenden Wirtschaftssystems genannt Kapitalismus sind, welches, während es uns in den reichen Ländern des Nordens grössten Wohlstand, Reichtum und Überfluss beschert, gleichzeitig jeden Tag weltweit 10‘000 Kinder an Hunger sterben lässt in Ländern, aus denen wir Nahrungsmittel und Rohstoffe importieren? Ist das Sterben an Hunger oder an Krankheiten infolge verschmutzten Trinkwassers so viel weniger grausam als das Sterben in den Gaskammern der Nationalsozialisten? Und ist unser Schweigen, unser Mitmachen, ja unser Mitprofitieren nicht ebenso unbegreiflich wie das damalige Schweigen und Mitmachen der «normalen» deutschen Zivilbevölkerung – umso mehr, als wir mit unserem Aufbegehren, unserem Widerstand, unserer Verweigerung ja nicht gleich, wie das unter dem Hitlerregime der Fall war, unser Leben riskieren würden?
   Was wird in den Geschichtsbüchern der Zukunft über unsere heutige Zeit wohl einmal geschrieben sein?

Freitag, 15. November 2013

Alles eine Frage des Wirtschaftssystems

«Ein Verbot der Prostitution führt nicht dazu, dass diese nicht mehr stattfindet – es gibt sie weiterhin, nur eben im Verborgenen, und dort ist es noch viel schwieriger, die Frauen zu schützen, denn kriminalisierte Frauen werden noch ausbeutbarer», so Rebecca Angelini, Mitarbeiterin der Zürcher Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) in der «Wochenzeitung» vom 19.9.2013. Die gleiche Ansicht vertrat Susanne Kahl-Passoth, Direktorin des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg, vor zwei Tagen in der Sendung «sternTV» und sprach sich ebenfalls gegen ein Verbot der Prostitution aus, wie es zum Beispiel in Schweden bereits seit 1999 existiert.
   Natürlich haben Rebecca Angelini, Susanne Kahl-Passoth und viele andere Frauen, die ebenfalls vor einem Verbot der Prostitution warnen, weil das die Situation der betroffenen Frauen nur noch weiter verschlimmern und sie noch grösserer Gewalt und Ausbeutbarkeit aussetzen würde, grundsätzlich Recht. Wenn dann aber, um gegen ein Prostitutionsverbot zu argumentieren, gar noch behauptet wird, die betroffenen Frauen hätten ja grundsätzlich ein «Recht» darauf, diesen Beruf auszuüben, dann frage ich mich schon, wie weit die Akzeptanz der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung denn schon vorangeschritten sein muss, dass selbst Frauen, welche in ihrer täglichen Arbeit das ganze Ausmass an mit Prostitution verbundener Gewalt und Menschenverachtung mitbekommen und ihre eigene politische Einstellung durchaus als «kritisch«, «fortschrittlich» und «emanzipiert» bezeichnen würden, dennoch anderen Frauen nicht das «Recht» darauf absprechen möchten, ihre Körper gegen Geld zu verkaufen. «Es gibt viele Frauen, die sich – den Umständen entsprechend – freiwillig für die Sexarbeit entscheiden. Sie loten ihre Möglichkeiten aus und entscheiden sich bewusst für dieses Gewerbe, weil es ihnen ein ordentliches Einkommen erlaubt» - so die bereits oben zitierte FIZ-Mitarbeiterin Rebecca Angelini.
   Ja, wenn man davon ausgeht, dass die Welt nun halt mal so ist, wie sie ist, und sich höchstwahrscheinlich auch nicht so bald ändern wird, dann wird jeder noch so verzweifelte Versuch, jede noch so brutale Selbsterniedrigung zum Zwecke des nackten Überlebens früher oder später zum «legitimen Menschenrecht», das in Anspruch zu nehmen doch niemandem verwehrt werden könne.
   Natürlich greift die Forderung nach einem Prostitutionsverbot viel zu kurz. Natürlich wäre das reine Symptombekämpfung. Natürlich würde das unter Umständen die Situation der betroffenen Frauen zusätzlich noch viel schlimmer machen, als sie es jetzt schon ist. Aber die Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis kann doch nicht sein, dass man sich damit abfindet und alle Kräfte nur noch darauf ausrichtet, wenigstens die allerschlimmsten Auswüchse ein ganz klein wenig abzumildern. Gleichzeitig und noch viel deutlicher und radikaler müsste doch die Forderung nach der Verwirklichung jener globalen gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse erhoben werden, in denen es gar nicht mehr nötig ist, dass irgendwo auf der Welt eine Frau vor die Wahl gestellt wird, entweder sich und ihre Familie im Elend versinken zu lassen, oder aber ihre Heimat zu verlassen, sich all den mit Prostitution und Frauenhandel verbundenen Gefahren auszusetzen und ihren Körper täglicher Ausbeutung und Zerstörung preiszugeben.
   Prostitution und Menschenhandel sind nicht die einzigen, aber vielleicht die grausamsten Auswirkungen des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems, welches dazu führt, dass sich an den einen Orten der Welt immer mehr Macht, Geld und Luxus anhäufen, während gleichzeitig an vielen anderen Orten dieser gleichen Welt immer mehr Menschen gezwungen sind, mit immer verzweifelteren Mitteln um ihr blosses Überleben zu kämpfen. Eine gerechte Welt, in der alle Menschen unabhängig davon, wo sie geboren wurden, die gleichen Chancen auf ein menschenwürdiges Dasein haben, ist keine Utopie. Es ist die einzige logische und vernünftige Alternative zu dieser aus allen Fugen geratenen heutigen Wirklichkeit, die wir als das «einzig Mögliche» und «Normale» zu sehen gewohnt sind.
   Und wenn dann eines Tages auch in Ungarn, in Weissrussland, in Nigeria und in Kolumbien jede Frau die Möglichkeit hat, mittels einer menschenwürdigen beruflichen Tätigkeit ihren Lebensunterhalt zu sichern, dann kann ich mir nur schwer vorstellen, dass sich dann noch viele von ihnen freiwillig und bewusst dafür entscheiden werden, mitten im Winter in irgendeiner europäischen Grossstadt halbnackt auf der Strasse zu stehen und nur darauf zu warten, sich vom nächstbesten Mann verprügeln, sich die Haut zerschneiden oder sich ihre Zähne ausschlagen zu lassen.