Mittwoch, 24. September 2014

Chance für ein neues Schul- und Bildungssystem

Seit Wochen tobt in der Schweizer Schullandschaft ein regelrechter «Sprachenstreit». Während die einen behaupten, je jünger ein Kind sei, umso leichter könne es eine Fremdsprache erlernen, gelangt eine soeben veröffentlichte Studie des «Wissenschaftlichen Kompetenzzentrums für Mehrsprachigkeit» in Freiburg zum genau gegenteiligen Schluss: Im Fremdsprachenunterricht hätten ältere Schülerinnen und Schüler einen entscheidenden Vorteil gegenüber jüngeren. Die Alltagserfahrung lehrt uns indessen etwas ganz anderes, nämlich, dass für das Erlernen einer Fremdsprache nicht das Alter entscheidend ist, sondern die Motivation. Es gibt Vier- oder Fünfjährige, die schon zwei oder gar drei Sprachen perfekt beherrschen, wenn durch ihr tägliches mehrsprachiges Umfeld die hierfür notwendige Motivation gegeben ist. Es können sich aber auch noch 70-Jährige, wenn sie das von sich aus unbedingt wollen, ohne weiteres eine oder gar mehrere zusätzliche Fremdsprachen aneignen.
   Der gegenwärtige Sprachenstreit könnte im besten Falle Anlass dazu sein, grundsätzlich über ein neues Schul- und Bildungssystem nachzudenken, in dem nicht mehr sämtlichen Kindern und Jugendlichen ein Einheitslehrplan übergestülpt wird, sondern alle Lernenden möglichst optimale Voraussetzungen zur Entfaltung ihrer individuellen Interessen und Begabungen vorfinden.

Mittwoch, 17. September 2014

Verlogener und zynischer geht es nicht mehr

Der Vorschlag der SVP, dass jede Gemeinde ihre Leistungen für die Sozialhilfe frei und individuell festlegen könnte, würde dazu führen, da sich insbesondere finanzschwache Gemeinden bei der Festlegung ihrer Sozialhilfeansätze voraussichtlich vermehrt gegenseitig unterbieten würden – dies auf Kosten jener Menschen, die sich bereits heute nur das Allernotwendigste leisten können und zukünftig den Gürtel noch enger schnallen müssten. Und dies in einem der reichsten Länder der Welt, in dem sich ein grosser Teil der Bevölkerung nach wie vor Luxusvergnügungen aller Art zu leisten vermag und die Zahl der Millionäre von Jahr zu Jahr ansteigt. Der höchste Grundwert unserer Gesellschaft, nämlich die Solidarität zwischen denen auf der Sonnenseite und denen auf der Schattenseite, gerät immer mehr unter die Räder. Und dies ausgerechnet durch das Treiben jener Partei, die sich bei jeder Gelegenheit auf die schweizerischen Grundwerte beruft. Verlogener und zynischer geht es nun wirklich nicht mehr.

Donnerstag, 11. September 2014

Voller Hoffnung

Poroschenko und Putin reichen sich die Hand. Jens Stoltenberg, ehemaliger Pazifist und NATO-Gegner, wird zum neuen NATO-Generalsekretär gewählt. Die niederländischen Experten, welche die Ursachen des Absturzes einer malaysischen Passagiermaschine über der Ukraine untersuchen, stellen fest, dass sie noch keine schlüssigen Beweise dafür hätten, von welcher der beiden Konfliktparteien das Flugzeug getroffen worden sei. Didier Burkhalter, Schweizer Bundesrat und Vorsitzender der OSZE, bleibt dabei: Weitere Sanktionen gegen Russland seien ungerechtfertigt und in Bezug auf eine Lösung des Konflikts kontraproduktiv. Die gleiche Meinung vertritt der österreichische Bundeskanzler Faymann.
   Ich beginne zu träumen. Nähern wir uns doch noch jener Zeitenwende, an die wir schon fast nicht mehr zu glauben wagten? Könnte es sein, dass eines Tages einfach zu viele friedfertige Menschen an allen Ecken und Enden der politischen und gesellschaftlichen Machtgebilde in den Startlöchern stehen, damit jenen anderen, machtbesessenen, welche noch die obersten Positionen besetzen, mit der Zeit gar nichts mehr anderes übrigbleibt, als das Feld zu räumen? Auf dass die Generäle ihre Armeen abschaffen und die Regierungen quer über alle Länder jeglichen Missbrauch von Macht und Gewalt auf Kosten anderer für immer Vergessenheit sein lassen?
   Vielleicht genügt es ja, wenn all jene, die bis jetzt bloss mit Abscheu zugeschaut haben und die «Dreckgeschäfte» der Mächtigen, mit denen sie nichts zu tun haben wollten, bloss anderen überlassen haben, nun selber überall, wo sich Gelegenheit bietet, im Kleinen wie im Grossen, einsteigen, um alles mehr und mehr zum Guten zu wenden? Vielleicht muss man ja nur genug fest daran glauben, damit das Unvorstellbare vorstellbar wird, um eine neue Welt aufzubauen, bevor die alte untergeht.

Samstag, 16. August 2014

Mischen wir uns ein!

Dient der russische Konvoi aus 290 Lastwagen reinen Propagandazwecken oder als Deckmantel für eine militärische Intervention oder handelt es sich tatsächlich nur um eine ernst gemeinte Nothilfe für die notleidende Bevölkerung der ostukrainischen Städte Lugansk und Donezk? Wurde das malaysische Passagierflugzeug MH17 von russischen Separatisten oder von der ukrainischen Luftwaffe abgeschossen? Waren die Maidan-Demonstrationen in Kiew, mit denen alles anfing, von Anfang an von westlichen Geheimdiensten infiltriert oder handelte es sich um eine ausschliesslich innerukrainische Auseinandersetzung zwischen Regimebefürwortern und Regimegegnern?
   Je nachdem, welcher der beiden Konfliktparteien, welchen Medien und welchen Politikern man mehr Glauben schenkt, werden die Antworten auf diese und viele weitere Fragen rund um die «Ukraine-Krise» höchst unterschiedlich, ja geradezu gegensätzlich ausfallen. Selbst wenn es noch so etwas wie Wahrheit gibt, ist diese im gegenseitigen Getöse von Behauptungen, Vorwürfen und Mutmassungen immer schwieriger auszumachen.
   Das Einzige, was wir mit Bestimmtheit wissen, ist, dass weit über tausend Zivilpersonen in diesem Konflikt bereits ihr Leben verloren haben; dass in den beiden Städten Lugansk und Donezk Hunderttausende von Männern, Frauen und Kindern eingekesselt sind, seit bald zwei Wochen weder über Strom noch über Wasser verfügen und in ständiger Todesangst leben; dass unter den gegenseitig ausgesprochenen Sanktionen westlicher Regierungen und Russlands wiederum Millionen unschuldiger Menschen in den betroffenen Ländern zu leiden haben werden und dass sich dieser Konflikt im allerschlimmsten Falle zu einem weit über den jetzigen Krisenherd hinausgehenden Flächenbrand ausdehnen könnte.
   Selbst der frühere US-amerikanische Sicherheitsberater und Aussenminister Henry Kissinger vertrat ganz zu Beginn dieses Konflikts die Meinung, die Ukraine täte gut daran, einen sowohl von der EU wie auch von Russland möglichst unabhängigen, eigenständigen Weg zu gehen, sich keinem der beiden Machtblöcke anzunähern, aber mit jedem wechselseitig gute Beziehungen zu pflegen, um auf diese Weise sogar zu einer Art Vorbild zu werden für ein zukünftiges, offenes, friedliches und blockfreies Europa. Leider sind solche Stimmen der Vernunft im Laufe der vergangenen Wochen immer seltener zu hören gewesen. Stattdessen ist die Spirale gegenseitiger Eskalation weiter und weiter in die Höhe getrieben worden und führt je länger je mehr zu einer Situation, in der es am Ende keine Sieger, sondern auf beiden Seiten nur Verlierer geben kann.
   Es ist Zeit, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen und in die Zukunft zu blicken. Egal, wer angefangen hat, egal, welches die «Guten» und welches die «Schlechten» sind, es gibt nur einen Weg, der sinnvoll ist: weg von Gewalt und Zerstörung hin zu Gewaltlosigkeit und Frieden. Seit Ende Juni kommt es in verschiedensten Regionen der Ukraine immer wieder zu Demonstrationen und Protestaktionen gegen den Krieg, an denen sich vor allem Frauen beteiligen. Im südukrainischen Melitopol protestierten aufgebrachte Frauen gegen die Einberufung ihrer Söhne zum Militär und kletterten auf Armeefahrzeuge. In Nikolajew blockierten Frauen und Mütter von Soldaten acht Stunden lang eine Brücke. Besonders stark ist die Protestwelle gegen den Krieg im Gebiet Transkarpatien, wo ein besonders buntes Völkergemisch lebt.
   Lassen wir die Menschen, die in der Ukraine mit grossem Mut an vorderster Front gegen den Krieg und für den Frieden kämpfen, nicht allein. Nehmen wir sie zu unserem Vorbild. Gehen wir millionenfach auf die Strassen, nicht mit US-amerikanischen, nicht mit EU-, nicht mit ukrainischen und nicht mit russischen Flaggen, sondern mit den Flaggen des Friedens. Kriege sind nicht Naturkatastrophen, die ohne unser Zutun über uns kommen. Kriege werden von Menschen gemacht. Sie werden von Menschen ermöglicht. Sie werden von Menschen geschürt. Aber sie können auch von Menschen verhindert oder beendet werden.
   Es macht zweifellos einen Unterschied, ob 700 Millionen Menschen – so viele nämlich leben in Europa und es gibt wohl nur ganz Vereinzelte unter ihnen, die den Krieg dem Frieden vorziehen – ihre Stimme erheben, kritische Fragen stellen, Briefe und Pamphlete schreiben, nicht locker lassen, bis Frieden ist – oder ob sie sich in Schweigen hüllen und bloss ihren täglichen Beschäftigungen und Vergnügungen nachgehen. Gleichgültigkeit kann tödlich sein. So viel mindestens sollten wir in den hundert Jahren seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gelernt haben. Noch ist es nicht zu spät. Machen wir uns ans Werk.

Samstag, 19. Juli 2014

Fataler Rückfall in alte Denkmuster

«Würde in der Ukraine Frieden herrschen, wäre die Tragödie nicht passiert» - dieser Kommentar des russischen Präsidenten Putin zum Absturz einer malaysischen Passagiermaschine mit 298 Todesopfern wird von westlichen Politikern und Kommentatoren als «zynisch» bezeichnet. Aber hat Putin damit nicht im Grunde genommen Recht? Nicht der Flugzeugabsturz ist das eigentliche Hauptproblem, sondern der Krieg als solcher. Und da ist jeder Toter ein Toter zu viel, egal, ob es ein holländischer Flugreisender, ein Soldat der ukrainischen Armee oder ein Kind irgendwo in der Ostukraine ist, welches zwischen die Schusslinien von Separatisten und Regierungssoldaten geraten ist. Die Empörung, die sich jetzt weltweit über den Absturz eines Passagierflugzeugs erhebt, müsste eigentlich eine Empörung sein über diesen Krieg. Den Absturz dieses Flugzeugs zum Anlass zu nehmen, um gegen Russland noch mehr politischen und wirtschaftlichen Druck aufzubauen, ist so ziemlich das Dümmste, was westliche Regierungen tun könnten. Vielmehr müsste alles daran gesetzt werden, diesen Konflikt so rasch wie möglich zu beenden, um weiteres sinnloses Blutvergiessen zu verhindern. Dies kann aber nur gelingen durch eine endgültige Absage an gegenseitige Schuldzuweisungen und eine Rückkehr zu Diplomatie und Deeskalation, wie sie nicht zuletzt von Bundesrat Didier Burkhalter, dem Vorsitzenden der OSZE, seit Beginn dieses Konflikts in vorbildlicher Weise gefordert wird.

Donnerstag, 17. Juli 2014

Armut ein komplexes Problem?

Armut sei ein komplexes Problem, schreibt Redaktor Richard Clavadetscher im «St. Galler Tagblatt» vom 16. Juli 2014 in Anbetracht von 590‘000 Armutsbetroffenen in unserem Land. Als Ursache für die Armut nennt er unter anderem die Wegrationalisierung von Jobs mit «einfachen» Anforderungen und schlägt dann als mögliches Mittel gegen die Armut die Frühförderung vor, damit «in Armut aufwachsende Kinder mehr Chancen bekommen sollen, um durch ansprechende schulische Leistungen später im Berufsleben zu reüssieren und so den prekären Lebensverhältnissen zu entkommen.»
    Wenn es doch so einfach wäre, die Armut aus der Welt zu schaffen! Doch Frühforderung wird kaum zum Verschwinden der Armut führen, sondern höchstens dazu, dass sich die «frühgeförderten» Kinder im schulischen Konkurrenzkampf um gute Noten und Berufschancen mit noch härteren Bandagen als bisher gegenseitig bekämpfen müssen. Zwar wird vielleicht das eine oder andere Kind mithilfe von Frühforderung etwas bessere schulische Leistungen erzielen, dies aber nur auf Kosten anderer Kinder, deren Chancen sich dadurch mindern. Weder an der Anzahl insgesamt vorhandener Ausbildungs- und Arbeitsplätze, noch am herrschenden Lohngefüge wird sich dadurch auch nur das Geringste ändern.
   Auch der Feststellung, Armut sei «ein komplexes Problem», ist zu widersprechen. Tatsache ist nämlich, dass Armut ein sehr einfaches Problem ist – vorausgesetzt, man spricht über deren tatsächliche Ursachen. Und diese liegen schlicht und einfach in der Natur des kapitalistischen Geld- und Wirtschaftssystems, in welchem auf hunderterlei verschlungenen Wegen unsichtbar Tag für Tag, Minute für Minute das Geld aus den Taschen der Armen in die Taschen der Reichen fliesst, von denen, die trotz härtester Arbeit immer weniger verdienen, zu denen, deren einzige «Leistung» darin besteht, möglichst viel zu besitzen oder aber einen Job auszuüben, in dem man aus unerfindlichen Gründen zwanzig oder dreissig Mal mehr verdient als in anderen Jobs, die aber für das Funktionieren der Wirtschaft und der gesamten Gesellschaft kein bisschen weniger wichtig sind. Die 590‘000 Armutsbetroffenen und die insgesamt 330‘000 Dollarmillionäre, welche zur Zeit in der Schweiz leben, sind daher nichts anderes als die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze.
   Deshalb kann man die Armut nur wirksam bekämpfen, wenn man gleichzeitig auch den Reichtum bekämpft und das gestohlene Geld, das aus den Taschen der Armen in den Taschen der Reichen verschwunden ist, wieder zurückholt. Dies geht weder mit Frühförderung noch sonst irgendeinem Wundermittel, das schon vor 20 oder 30 Jahren gepredigt wurde und mit dem man uns bloss immer wieder Sand in die Augen gestreut hat, ohne dass damit auch nur ansatzweise verhindert werden konnte, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer noch weiter und weiter geöffnet hat. Lösen lässt sich das Problem einzig und allein durch den Aufbau einer von Grund auf neuen, nichtkapitalistischen Geld- und Wirtschaftsordnung, die nicht mehr auf Ausbeutung, sondern auf Gerechtigkeit beruht. So einfach ist das. Man muss es nur wissen.

Dienstag, 1. Juli 2014

Was ist Krieg und was ist Frieden?

Wir sprechen vom Frieden. Und wir sprechen vom Krieg.
   Doch was ist eigentlich Frieden? Und was ist eigentlich Krieg?
   Ist Krieg nur, wenn Menschen aufeinander schiessen und Armeen mit Raketen und Panzern aufeinander losgehen? Das würde dann bedeuten, dass überall dort, wo Menschen oder Armeen sich nicht mit Hilfe von Waffen gegenseitig umbringen, Frieden herrscht.
   Ich denke, dass dies ein sehr einseitiges, trügerisches, ja sogar falsches Verständnis von Frieden wäre. Denn Krieg ist viel mehr als bloss das, was man normalerweise darunter versteht. Man kann Menschen oder sogar ganze Völker und halbe Kontinente nämlich auch töten, ohne dass man einen einzigen Schuss abgibt. Und das soll dann nicht Krieg sein?
   Man hat uns manipuliert. Man hat uns einzureden versucht, ein Krieg beginne erst dann, wenn ein erster Schuss fällt oder wenn ein Staat einem anderen offiziell einen Krieg erklärt oder wenn die Armee des einen Landes auf das Gebiet eines anderen vordringt.
   Doch das ist nicht die Wahrheit. Kriege kann man auch so führen, dass man meint, es sei Frieden.
   Krieg ist auch, wenn jeden Tag weltweit rund 10‘000 Kinder infolge mangelnder Ernährung sterben, während wir hier in Europa uns den Luxus leisten können, einen Drittel sämtlicher Lebensmittel in den Müll zu werfen. Krieg ist auch, wenn an Europas südlichen und östlichen Grenzen immer höhere Mauern und Zäune aufgebaut werden, um die wachsende Zahl von Flüchtlingen aus Elends- und Kriegsgebieten abzuwehren und damit ihre letzte Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben zu zerstören. Krieg ist auch, wenn multinationale Konzerne in Äthiopien, Kenia, Mali oder Zentralafrika immer grössere Flächen an Land aufkaufen, um dort, wo vorher die Grundnahrungsmittel für die einheimische Bevölkerung produziert wurde, Biodiesel für die Mobilitäts- und Luxusvergnügen der Menschen in den reichen und reichsten Ländern zu gewinnen. Krieg ist auch, wenn das Vermögen der Reichsten der Welt allein im vergangenen Jahr wieder um 52‘620 Milliarden Dollar zugenommen hat, während gleichzeitig die UNO für ihre Hilfsprogramme an die von einer schweren Dürrekatastrophe betroffene Bevölkerung Somalias erst gerade mal 80 von 566 benötigten Millionen Dollar zusammengebracht hat, also rund 70‘000 Mal weniger als der weltweite Zuwachs des Reichtums der Reichsten innerhalb eines einziges Jahres. Krieg ist auch, wenn, bloss um eine immer grössere Menge an sinnlosen und überflüssigen Dingen zu produzieren, innerhalb weniger Jahrzehnte Bodenschätze aufgebraucht und natürliche Ressourcen in einem so gigantischen Ausmass verschwendet werden, dass das zukünftige Überleben der Menschheit auf diesem Planeten mehr und mehr in Frage gestellt wird.
   Krieg herrscht aber auch hierzulande. Krieg ist nämlich auch, wenn Menschen, ohne dafür arbeiten zu müssen, dennoch 100 oder 200 mal höhere Einkommen haben als andere, die sich Tag für Tag auf Kosten ihrer Gesundheit abrackern und dennoch nicht einmal genug verdienen, um einigermassen anständig leben zu können. Krieg ist auch, wenn Menschen aus ihren Wohnungen geschmissen werden, wo sie 20 oder 30 Jahre lang gelebt haben, bloss weil sie die steigenden Mietpreise nicht mehr bezahlen können. Krieg ist auch, wenn sich eine Minderheit von Reichen immer verrücktere und ausgefallenere Luxusvergnügen leisten können, während dem Rest der Bevölkerung immer grössere Einschränkungen, immer mehr Verzicht und immer grössere finanzielle Belastungen aufgebürdet werden.
   Ja, eigentlich herrscht Krieg immer dann, wenn einem Menschen, einer Gruppe von Menschen, einem Volk oder einem Land Leid, Ungerechtigkeit und Zerstörung zugefügt wird, bloss weil andere, die mächtiger sind, ihre eigenen habgierigen, egoistischen, machtbesessenen Interessen durchzusetzen vermögen. Denn letztlich kommt es für eine Bauernfamilie irgendwo in Afrika oder Lateinamerika nicht darauf an, ob sie mit Gewehrschüssen von ihrem Land vertrieben wird oder ob ihr Land von einem multinationalen Konzern aufgekauft wird und sie dadurch ins Elend stürzt, das Ergebnis ist genau das Gleiche. Die Kriege, die von den Reichen und Mächtigen gegen die Armen und Machtlosen geführt werden, können auf Waffen traditioneller Art verzichten, denn sie haben viel raffiniertere und zugleich viel gefährlichere und viel wirkungsvollere Waffen, um ihre Interessen durchzusetzen.
   Und damit sind wir einmal mehr bei unserem herrschenden Geld- und Wirtschaftssystem angelangt. Ja, das Geld in den Händen der Reichen und Reichsten ist die eigentliche Hauptwaffe, mit der die heutigen scheinbar so friedlichen, scheinbar so gewaltlosen, tatsächlich aber so grausamen und zerstörerischen Kriege geführt werden.
   Und wenn wir beim Geld sind, dann sind wir auch bei der Schweiz, diesem scheinbar so friedlichen Land, das sich aber, Hand in Hand mit den Reichen und Reichsten der Welt, den Börsenhändlern, den Rohstoffspekulanten, den Kriegsgewinnlern, den multinationalen Lebensmittel- und Pharmakonzernen, den Gold-, Diamanten- und Erdölhändlern an allervorderster Front befindet, wenn es darum geht, die Interessen der Mächtigen auf Kosten der Machtlosen gnadenlos durchzusetzen. Oder aus welchen anderen Gründen sollte denn ausgerechnet die Schweiz, dieses karge, an Bodenschätzen so arme Land, das reichste Land der Welt sein? Alles bloss, weil wir so menschenfreundlich und so friedliebend sind? Wohl kaum.
   Wenn wir beim Geld sind, dann sind wir zwangsläufig natürlich auch beim Kapitalismus, diesem vermeintlich so friedlichen Geld- und Wirtschaftssystem, das in Tat und Wahrheit aber nichts anderes ist als ein globaler Kriegszug. Ein globaler Kriegszug der Reichen gegen die Armen, ein globaler Kriegszug gegen die Natur, ein globaler Kriegszug gegen zukünftige Generationen.
    Es gibt keinen friedlichen Kapitalismus, ebenso wenig wie es einen friedlichen Krieg geben kann. Kapitalismus ist Krieg. Und erst die Überwindung des Kapitalismus mit allen von ihm verursachten Ungerechtigkeiten kann das schaffen, was man tatsächlich als Frieden bezeichnen könnte, Frieden unter den Menschen, Frieden mit der Natur, Frieden mit der Zukunft. Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit.
   Zum Abschluss noch ein kurzer Ausschnitt aus meinem Buch ZEIT FÜR EINE ANDERE WELT:
«Die grösste Hoffnung, dass der Beginn dieses neuen, nachkapitalistischen Zeitalters nicht reines Wunschdenken bleiben muss, sondern schon bald Wirklichkeit werden kann, gibt uns eine Jugend, die sich weltweit immer lauter und drängender zu Wort meldet. Es ist der Kampf des Lebens gegen die Normen, gegen die Gewohnheiten und gegen die Lügen des Alltags. Ein immer rasenderes Suchen nach etwas, ohne es noch ganz gefunden zu haben. Das tiefe Spüren, dass diese Welt, so kalt, so materialistisch, so ungerecht, nicht jene Welt sein kann, von der wir alle im Augenblick unserer Geburt einmal geträumt hatten. Wie eine Raupe, die zum Schmetterling wird. Wie eine Zwiebel, die sich häutet. Mitten in der alten Zeit entsteht eine neue Zeit.»

(Rede anlässlich der Montags-Friedensmahnwache vom 30. Juni 2014 in Zürich CH)

Donnerstag, 19. Juni 2014

Wie lange kann das so noch weitergehen?

Gemäss dem von der Beratungsfirma Capgemini zusammen mit der Royal Bank of Canada jüngst präsentierten World Wealth Report leben gegenwärtig 330‘000 Dollarmillionäre in der Schweiz, das sind 47‘500 Personen oder fast 17 Prozent mehr als im Vorjahr. Die gleiche Entwicklung weltweit: Im vergangenen Jahr sind die Vermögen der Reichsten insgesamt um fast 14 Prozent auf 52‘620 Milliarden Dollar angewachsen – das ist das Siebzigfache dessen, was das ärmste Siebtel der Weltbevölkerung insgesamt während eines ganzen Jahres verdient!
   Da Geld bekanntlich nicht auf den Bäumen wächst und auch nicht aus irgendwelchen Tiefseemuscheln gewonnen und schon gar nicht von fernen Sternen heruntergeholt werden kann, bedeutet die laufend wachsende Geldmenge in den Händen der Reichen nichts anderes, als dass dieses Geld dort, wo es vorher war, nun entweder gar nicht mehr vorhanden ist oder zumindest in weitaus geringerem Ausmass. Bezeichnenderweise werden denn auch als Hauptgründe für den enormen Reichtumszuwachs die «gute Entwicklung an den Börsen» und die «allgemein bessere Wirtschaftsentwicklung» genannt. Was im Klartext nichts anderes heisst, als dass durch Rationalisierung, billigere und schnellere Produktionsverfahren, aggressivere Vermarktung, günstigere Transportkosten, geringere Rohstoffpreise, Zusammenlegen von Firmen, Auslagerungen, Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe, Lohndrückerei, Erhöhung des Rentenalters, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen und Entlassungen – alles auf Kosten der Lebensqualität und der Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung und der Natur – bei gleichzeitig kontinuierlichem Abbau öffentlicher Leistungen und laufender Erhöhung von Gebühren, Sozialabgaben, Wohnungsmieten, Krankenkassenprämien, Energiepreisen, usw. aus den auf den mittleren, unteren und untersten Stufen der gesellschaftlichen Machtpyramide Lebenden mit immer drastischeren Mitteln auch noch das Allerletzte herausgepresst wird, um die endlos wachsenden Macht- und Konsumbedürfnisse derer auf den oberen und obersten Rängen zu befriedigen.
   Wie lange kann das so noch weitergehen?

Mittwoch, 18. Juni 2014

Lieber Herr Schweizer, von wegen «Jugos» und so

Lieber Herr Schweizer. Soeben haben Sie sich wieder einmal fürchterlich aufgeregt über jenen «Jugo» in Ihrer Nachbarschaft, von dem Sie mir schon einige Male erzählten. Wieder hätten Sie ihn in seinem BMW herumfahren sehen, ihn, dessen Frau, wie Sie in Erfahrung gebracht hätten, gleichzeitig auf dem Rathaus Sozialhilfegeld bezöge und erst noch in mehreren Haushalten schwarz arbeite. Aber bei der Mentalität dieser Leute, so meinten Sie, wäre das ja auch kein Wunder. Die würden einem das Fell über die Ohren ziehen, wo sie nur könnten.
   Lieber Herr Schweizer. Ich verstehe Ihren Unmut durchaus. Aber gleichzeitig frage ich mich, ob solche Dinge, die uns da in die Augen stechen und uns oft so masslos ärgern, nicht auch ein klein wenig mit uns selber zu tun haben, mehr als uns wahrscheinlich lieb ist. Wie ich das meine? Nun gut, lassen Sie es mich erklären…
   Versuchen wir das Ganze mal aus einer etwas grösseren Distanz zu betrachten. Ja genau, das meine ich: Die Tatsache, dass die Schweiz das reichste Land der Welt ist. Und dass wir diesen Reichtum nicht so sehr unserer eigenen Arbeit und auch nicht den Schätzen unseres Bodens und unserer Natur verdanken, sondern unter anderem zum Beispiel dem so genannten Bankgeheimnis, das über Jahrzehnte dafür sorgte, dass Unsummen von Geldern, welche brutalste Diktatoren quer über alle Kontinente aus ihren in bitterster Armut lebenden Völkern herausgepresst hatten, in der Schweiz gehortet wurden, um hier wiederum als Voraussetzung zu dienen für eine Vielzahl weiterer blühender Geschäfte, von denen wir alle miteinander bis heute und weiterhin profitieren. Während einem halben Jahrtausend, seit der Zeit des Sklavenhandels und der kolonialistischen Einverleibung der südlichen Hemisphäre durch die Industrie- und Militärnationen des Nordens, zog die Schweiz unaufhörlichen Nutzen aus jenem zutiefst ausbeuterischen Preisverhältnis zwischen billigsten, aus dem Süden importierten Rohstoffen und teuersten, an die dortigen Eliten exportierten Luxusgütern, wodurch sich die Früchte des Südens nach und nach ins Gold des Nordens verwandelten und die am meisten mit guter Erde und gutem Klima gesegneten Teile der Welt schliesslich zu jenen Hungergebieten wurden, wo heute insgesamt eine Milliarde Menschen nicht genug zu essen haben, während wir uns den Wahnsinn leisten können, rund einen Drittel der gesamthaft gekauften Lebensmittel in den Müll zu werfen. Damit nicht genug. Ohne je in unserem eigenen Boden auch nur einen einzigen Tropfen Erdöl oder auch nur einen einzigen Diamanten gefunden zu haben, gehört die Schweiz dennoch bis heute zu den grössten Profiteuren im internationalen Rohstoffhandel. Selbst in der Herstellung und dem Verkaufen von Waffen und Rüstungsgütern, womit hierzulande Reichtum geschaffen wird durch Zerstörung und Elend in vielen anderen Ländern fern von uns, gehört die Schweiz, relativ zur eigenen Bevölkerungszahl, weiterhin zur Weltspitze. Und wenn es darum geht, als kleines Entgelt für dies alles wenigstens die Gelder für so genannte Entwicklungshilfe – die nur einen winzigen Bruchteil all jener zuvor geschaffenen Profite ausmacht – ein klein wenig zu erhöhen oder ein paar hundert zusätzliche Flüchtlinge aus fernen Kriegs- und Elendsgebieten aufzunehmen, dann will die überwiegende Mehrheit der Schweizer Bevölkerung absolut nichts davon wissen oder hat für jene unverbesserlichen «Gutmenschen», die sich für solcherlei einsetzen, höchstens ein müdes Lächeln übrig. 
    Gäbe es dereinst so etwas wie ein Jüngstes Gericht, dann glaube ich nicht, dass wir Schweizer dabei besonders gut wegkämen. Wahrscheinlich wären wir in der langen Menschenschlange, die vor diesem Gericht antreten müsste, ziemlich weit vorne mit dabei und unser «Jugo» vermutlich viel, viel weiter hinten und die Flüchtlinge aus Nigeria oder Somalia, die im einen oder anderen unserer Warenhäuser ein Paar Turnschuhe geklaut hatten, die wären wahrscheinlich so weit hinten, dass wir sie überhaupt nicht mehr sehen würden.
   Könnte es sein, dass uns der «Jugo» vor allem deshalb so ärgert, weil er ganz offensichtlich etwas zur Schau trägt und ans Tageslicht bringt, was in jedem Einzelnen von uns selber ebenso tief verborgen liegt? Ist es unser eigenes schlechtes Gewissen, das uns beunruhigt? Sind wir nicht alle kleinere und grössere Gauner in diesem weltweiten Riesengaunersystem genannt Kapitalismus, in dem es schon längst zur obersten, allgemeinen, selbstverständlichen Regel geworden ist, dass jeder den anderen übers Ohr haut und ihm das Fell über die Ohren zieht, wo er nur kann? Bloss dass die einen sich den Luxus leisten können, dies ganz «legal» zu tun, im Rahmen so genannt demokratisch erlassener Gesetze, während die anderen dazu gezwungen sind und ihnen schlicht und einfach gar nichts anderes übrig bleibt, als sich ihre – nach der grossen Party der Reichen am Boden liegen gebliebenen – Brosamen dann halt ausserhalb dieser Gesetze, mit allen möglichen «illegalen» Mitteln zusammen zu klauben.
   Lieber Herr Schweizer. Lassen Sie Ihrem Ärger weiterhin bloss freien Lauf. Aber vergessen Sie dabei nicht, auch von Zeit zu Zeit in Ihren eigenen Spiegel zu schauen. Und vielleicht sind wir dann eines Tages so weit, dass wir von anderen nur jenes Mass an Fairness erwarten und verlangen können, das wir ihnen mit unserem eigenen Beispiel selber auch tatsächlich vorleben. Schön wäre es.

Montag, 16. Juni 2014

Jetzt weinen schon die Bäume

Brummender Motorenlärm zersägt die hochsommerliche Hitze in kleine scharfkantige Stücke flimmernder Luft und dort wo vor zwei Wochen noch eine grüne Wiese war gähnt jetzt nur noch ein riesiges brennendes Loch aufgewühlter Erde und durcheinandergewirbelter Steine spätestens im nächsten Frühjahr wird der an dieser Stelle entstehende neue Schulhaustrakt fertiggebaut sein und eingeweiht werden und die Kinder werden ihre schönsten Lieder zum Besten geben und der Gemeindepräsident und die Schulpräsidentin werden sich endlich gegenseitig zuprosten können denn viel zu lange schon hat man auf sie warten müssen die dringend benötigten Spezialzimmer und Therapieräume für die von Jahr zu Jahr grösser werdende Zahl von Kindern an denen auch die besten und geduldigsten Lehrerinnen und Lehrer immer öfters verzweifeln schon gut meint ein schräg gegenüber der Baustelle wohnender Nachbar die werden schon wissen was sie tun aber die Bäume hätte man doch wenigstens stehen lassen können zumindest den ganz grossen uralten mit seinem gerade im Hochsommer so wohltuend kühlenden Blätterdach und seinem reichen Astwerk an dem schon mal das eine oder andere besonders mutige Kind in schwindelnde Höhe hochgeklettert sei und auch das alte Mauerwerk und den halb verfallenen Geräteschuppen aus dessen Ziegeln und Brettern in den Händen der Kinder schon so manches kleines Kunstwerk entsprungen sei doch viel zu spät längst ist das alles nur noch Erinnerung zusammengekarrt von Baggern und aufgetürmt zu einem riesigen Haufen mit Stacheldrahtzaun von den Kindern abgesperrt die jetzt vor und nach dem Unterricht und während den Pausen nur noch auf einem kleinen Stück Rasen schattenlos in sengender Hitze Fussball spielen oder angelehnt an eine mannshohe Bretterwand mit gegen die Sonne zusammengekniffenen Augen ihre Pausenbrote verzehren im nächsten Frühjahr wird alles ganz anders sein und auch das letzte Kind auf der immer länger gewordenen Warteliste wird seine Therapie bekommen und auch für die Elterngespräche wird dann ein ausschliesslich zu diesem Zweck erstelltes Zimmer zur Verfügung stehen das Kind winzig klein in der grossen Runde zwischen dem Schulpsychologen der Schulleiterin seinem Klassenlehrer der Logopädin der Ergotherapeutin Kästchen auf langen Listen Fragen und Antworten Kreuzchen hier Kreuzchen dort und der ratlose Blick der Mutter und eine kaum sichtbare Träne im Gesicht des Kindes noch ist der Stamm des uralten Baumes tief unter dem Trümmerhaufen in der gnadenlosen Mittagshitze nicht gänzlich tot das Lachen der Kinder in seinem Geäst immer noch schöne Erinnerung und auch die Tränen des Baumes sind beinahe unsichtbar winzig glänzende Tropfen aus Harz versickernd zwischen dem Schutt und den Steinen kleiner scharfkantiger Stücke flimmernder Luft im brummenden Motorenlärm hochsommerlicher Hitze. 
    (P.S. Um herauszufinden, ob es sich bei einem «verhaltensauffälligen» Kind tatsächlich um ein so genanntes ADHS-Kind handelt – also um ein Kind mit einer Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörung, auch Hyperkinetische Störung genannt –, wird von Ostschweizer Kinderärzten ein Fragebogen verwendet, bei dem von den Eltern anzukreuzen ist, ob unter anderem folgende Aussagen über das jeweilige Kind zutreffend sind oder nicht: «Mein Kind ist zappelig und kann nicht stillsitzen», «Es rennt viel herum und klettert überall hinauf», «Es bewegt sich übermässig viel», «Es macht oft körperlich gefährliche Aktivitäten, ohne mögliche Folgen zu bedenken», «Es handelt häufig, bevor es überlegt», «Es kennt manchmal keine Grenzen».)

Samstag, 14. Juni 2014

Lernen ohne Freude ist keinen Heller wert

Gemäss einer bisher unveröffentlichten Studie aus der Stadt Zürich, über deren Ergebnisse im heutigen «Tages-Anzeiger» berichtet wird, ist mindestens jede zehnte Lehrkraft stark Burn-out-gefährdet, Lehrkräfte fühlen sich in ihrem Berufsalltag sogar stärker belastet als Polizisten. Gleichzeitig nimmt die Anzahl gestresster und therapiebedürftiger Schulkinder laufend zu, nicht nur im Kanton Zürich, sondern schweizweit. Dies ist wohl kein Zufall, sondern vielmehr ein Zeichen dafür, dass an unserer Schule grundsätzlich etwas nicht stimmt. Auf der einen Seite die Lehrkräfte, die gezwungen sind, Kindern und Jugendlichen von früh bis spät eine wachsende Unmenge an kompliziertem, theoretischem und grösstenteils überflüssigem Schulwissen beizubringen. Auf der anderen Seite die Kinder und Jugendlichen, die so viel anderes so viel lieber täten und sich daher mit allen möglichen und unmöglichen Formen von «Lernverweigerung» und «Disziplinstörungen» gegen die Bemühungen ihrer Lehrkräfte zu wehren versuchen. Und so sind sie absurderweise dazu verdammt, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen...
   Therapieren muss man nicht die Kinder. Therapieren muss man auch nicht die Lehrkräfte. Therapieren müsste man die Schule als Ganzes. Indem man sie zu einem Ort der Lern- und Lebensfreude werden lässt, wo Lernen wieder so viel Spass macht und zugleich so erfolgreich ist, wie wir das alle aus dem frühkindlichen Lernen der ersten Lebensjahre kennen. Denn, wie schon Johann Heinrich Pestalozzi sagte: «Lernen ohne Freude ist keinen Heller wert.»

Montag, 12. Mai 2014

Sie hat einen Traum

Sie hat einen Traum aber jetzt ist es besser nicht zu viele Gedanken daran zu verlieren denn drei Stühle weiter hinten wartet schon die nächste Kundin die erste kam fünf Minuten zu spät die zweite fünf Minuten zu früh und jetzt spürt sie schon ohne hinzusehen messerscharf ungeduldige und vorwurfsvolle Blicke von allen Seiten während die erste Kundin noch immer nicht ganz zufrieden ist und das Telefon klingelt und die Lehrtochter um Rat bittet weil sie bei einer dritten Kundin soeben das falsche Färbemittel erwischte.
   Sie hat einen Traum und in diesem Traum erscheint ihr Name im Abspann eines Hollywoodfilms ihr winziger unscheinbarer Name fast zuletzt wenn alle berühmten und grossen Namen schon längst vorüber sind und das Publikum den schon wieder hell erleuchteten Saal verlassen hat während sie noch ganz alleine in ihrem Stuhl sitzt und darauf wartet Vanessa Gladys Veronica Tamara und wie sie alle heissen wie wenn sie sie alle kennen würde in ihren Salons voller Spiegel weit hinter den Kulissen wo sie bis in den frühen Morgen den Gesichtern der grossen Stars hautnah verführerischen Glanz verleihen betörendes Funkeln in smaragdenen Augen bläulich schimmernde Blässe im Angesicht nahenden Todes zwei Tränen die wie kristallene Perlen über eine Wange gleiten auf Abertausenden Leinwänden rund um den ganzen Globus.
   Sie hat einen Traum aber am Ende des Tages stecken ihre Füsse Mal um Mal noch ein klein wenig tiefer im Boden und auch die Haut an den Fingern wächst nicht annähernd so schnell wieder nach wie sie ätzend rot über den Tag abgeblättert war Sommerferien wird es dieses Jahr keine geben noch mehr Kundinnen zu verlieren liegt nicht drin diesen Vorwurf ob es denn neuerdings Mode sei blau zu machen an einem Samstagnachmittag um fünf will sie nie mehr nie mehr wieder hören lieber arbeiten bis zum Umfallen die Kundin ist Königin und alles andere kannst du vergessen besonders wenn der Sommer vor der Tür steht und die grossen Kreuzfahrten beginnen und jede noch schöner sein will als die andere und sie dann zwei drei Wochen später wieder nach Hause kommen und du einfach lächelnd dazustehen hast als hättest du die ganze harte heisse Zeit voller Arbeit nichts anderes getan als auf sie zu warten und auf ihre Geschichten aus tausend und einer Nacht bis dir der Kopf zerplatzt.
   Sie hat einen Traum und in diesem Traum lässt sie ihre geschwollenen Beine über die Reling eines schneeweissen Schiffes ins kühlende Wasser baumeln Flugzeuge erheben sich gleich riesigen Vögeln nach allen Seiten doch wenn sie am Ende des Tages alles zusammenrechnet zerrinnt auch der allerletzte winzige Traum zwischen ihren rissigen Fingern die vor so kurzer Zeit noch so schön waren und auch die Füsse und auch der Rücken und auch der Kopf der bis spät in die Nacht nicht zur Ruhe kommen wird weshalb stand noch auf keinem einzigen jener Riesenplakate inmitten der grössten Städte der Welt auch nur je ein einziger Name all jener Millionen von Frauen die von frühmorgens bis spät in der Nacht Haarspitzen drehen Kleider und Schuhe nähen giftigen Dämpfen ausgesetzt Farben und Schönheitsmittel mischen Böden schrubben bis sie ihre Rücken und ihre Beine nicht mehr spüren und weshalb bekommt die Friseuse kein Geld für all das Lachen und all die Aufmerksamkeit und all die Bewunderung die sie Tag für Tag an ihre Kundinnen verschenkt und weshalb kein Schmerzensgeld für all die gestohlenen verlorenen und vergessenen Träume.

Mittwoch, 7. Mai 2014

Man will uns Angst machen

Wieder einmal versucht man, ein wichtiges sozialpolitisches Anliegen mit Angstmacherei zu bekämpfen. Die Einführung eines allgemein verbindlichen gesetzlichen Mindestlohns führe zu einer höheren Arbeitslosigkeit und zu einer Schwächung der Schweizer Wirtschaft gegenüber der ausländischen Konkurrenz, wird behauptet. Mit den genau gleichen Argumenten wurde schon gegen die Einführung der AHV, gegen die Abschaffung von Kinder- und Sonntagsarbeit und gegen die Einführung der 5-Tage-Woche gekämpft. Trotzdem sind diese Forderungen heute alle verwirklicht. Ist die Schweizer Wirtschaft deswegen zusammengebrochen? Natürlich nicht, ganz im Gegenteil…
   Tatsache ist, dass heute 330‘000 Menschen in der Schweiz trotz voller Erwerbstätigkeit nicht genug verdienen, um einen minimalen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Und das im reichsten Land der Welt! Am 18. Mai stimmen wir nicht über einen Luxuslohn ab, sondern nur darüber, dass alle in der Schweiz Erwerbstätigen mindestens 22 Franken pro Stunde verdienen sollen. Bescheidener geht es nun wirklich nicht. Stimmen wir daher am 18. Mai der Mindestlohninitiative zu und setzen damit diesem unwürdigen Zustand und der Respektlosigkeit gegenüber Hunderttausenden hart arbeitenden und dennoch Armut leidenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern ein Ende!
(Dieser Abstimmungsaufruf wurde auch von der Buchser «Bärenrunde», einer offenen Gesprächsplattform für wirtschafts- und gesellschaftspolitische Zukunftsfragen, veröffentlicht. www.bärenrunde.ch)

Donnerstag, 1. Mai 2014

Ich wünschte mir...

Nun endlich wissen wir es: Dass Frauen in vergleichbaren Jobs rund 19 Prozent weniger verdienen als Männer, hat nichts mit Benachteiligung oder Diskriminierung zu tun, sondern ist einzig und allein eine Folge der «inneren Einstellung der Frauen», die «nicht bereit sind, höhere Anstrengungen im Beruf auf sich zu nehmen». So jedenfalls die Meinung des schweizerischen Arbeitgeberpräsidenten Roland Müller, kundgetan anlässlich einer Pressekonferenz im Bundeshaus vergangenen Montag. Eine Aussage, die sich an Arroganz und Abgehobenheit wohl kaum mehr überbieten lässt.
   Ich wünschte mir, Herr Müller würde nur wenigstens eine Woche lang jene Arbeit verrichten, die von Serviceangestellten, Zimmermädchen in Luxushotels, Callcenter-Mitarbeiterinnen, Coiffeusen, Verkäuferinnen in Schuh- und Modegeschäften, Putzfrauen und Hilfspflegerinnen in Altersheimen Tag für Tag, über Jahre hinweg, geleistet wird. Und dass er dann ebenso, wie Hunderttausende dieser Frauen, jeden Abend todmüde ins Bett fallen würde, mit Füssen voller Blasen, schmerzenden Armen und Beinen, einem krumm gearbeiteten Rücken und den Kopf immer noch voller Befehle, Zurechtweisungen, Reklamationen und Vorwürfe, mit denen man durch den Arbeitstag gehetzt wurde. Und dass er dann ebenso wie so viele dieser Frauen, obwohl er so hart gearbeitet hätte, zu alledem zusätzlich noch von finanziellen Sorgen geplagt wäre und regelmässig gegen Monatsende feststellen müsste, dass das noch vorhandene Haushaltsgelds nicht einmal mehr für das Allernotwendigste ausreicht…
   Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Müller, wenn er dies alles erlebt hätte, auch weiterhin noch solchen Unsinn verbreiten könnte.

Mittwoch, 30. April 2014

Das Rädchen und die Maschine

Könnte die Festschreibung eines gesetzlichen Mindestlohns dazu führen, dass zahlreiche Kleinbetriebe schliessen müssten, weil sie nicht mehr konkurrenzfähig wären bzw. weil sie schlicht und einfach nicht genug Geld verdienen, um allen ihren Angestellten einen Stundenlohn von mindestens 22 Franken zahlen zu können? Könnte die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns deshalb dazu führen, dass zahlreiche Arbeitsplätze verloren gingen?
   Nur schon dass solche Fragen in der aktuellen Diskussion um die Mindestlohninitiative eine wichtige Rolle spielen, zeigt, wie krank unser Wirtschaftssystem ist. Offensichtlich müssen zu seiner Aufrechterhaltung mindestens ein Zehntel aller Erwerbstätigen darauf verzichten, selbst bei voller Erwerbstätigkeit und härtestem Arbeitseinsatz einen genug grossen Lohn zu bekommen, um davon einigermassen anständig leben zu können. Während gleichzeitig die Einkommen und Vermögen all jener, die bereits jetzt um ein Vielfaches reicher sind, weiter und weiter unaufhaltsam in die Höhe wachsen…
   Deshalb geht es in der Abstimmung vom 18. Mai nicht nur um den Mindestlohn. Es geht vor allem auch um die Frage nach den Grundlagen und den Gesetzmässigkeiten der gesamten Arbeitswelt und der gesamten Geld- und Wirtschaftsordnung, der wir unterworfen sind und die man aufgrund ihrer immer drastischer zutage tretenden Widersprüche eigentlich schon längst nicht mehr als «Ordnung», sondern, viel zutreffender, als «Unordnung» bezeichnen müsste.
   Diese kapitalistische Wirtschafts-Unordnung ist eine komplexe Riesenmaschine, bei der alles mit allem ineinander verzahnt ist. Einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, bedeutet im besten Falle, ein einzelnes kleines Rädchen dieser Riesenmaschine auszuwechseln bzw. ein wenig langsamer drehen zu lassen. Die Folge – so lange am Grundmechanismus der Maschine nichts geändert wird – ist klar: Alle anderen Rädchen werden sich danach nur umso schneller drehen und die Auspressung der Werktätigen durch die Besitzenden wird an tausend anderen Stellen nur umso unerbittlicher ihren Fortgang nehmen.
   Ist es aufgrund solcher Überlegungen völlig unwichtig und überflüssig, sich für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns einzusetzen? Natürlich nicht. Jeder Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit, und sei er noch so klein, ist ein guter Schritt. Aber selbst wenn der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns die Mehrheit der Bevölkerung zustimmen würde und selbst wenn die 1:12- Initiative angenommen worden wäre und selbst wenn noch viele, viele weitere ähnliche Ideen und Initiativen erfolgreich wären – es würde alles nicht genügen, so lange wir nicht mit ebenso viel Aufwand und Tatkraft für den Aufbau einer von Grund auf neuen Wirtschaftsordnung arbeiten, die nicht mehr auf Ausbeutung und Profitmaximierung ausgerichtet ist, sondern auf die realen Lebensbedürfnisse von Mensch und Natur heute und in Zukunft.

Dienstag, 29. April 2014

Verdrehung historischer Tatsachen

EU-Korrespondent Stephan Israel nennt im heutigen «Tages-Anzeiger» die EU eine «Friedensmacht», die angesichts «Putins geopolitischer Machtspiele» gegenwärtig, in der Ukraine, «an ihre Grenzen stosse». Was für eine Verdrehung historischer Tatsachen! Immerhin sind mit der ehemaligen DDR, Tschechien, Polen, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, der Slowakei, Bulgarien und Rumänien zehn der seit 1990 in die EU aufgenommenen Länder, die früher alle dem Warschauer Pakt angehörten, heute Mitglieder der NATO, jenes westlichen Militärbündnisses, das sich mit seinen Kriegseinsätzen gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Libyen nicht nur über sämtliche Bedenken und Widerstände Russlands hinweggesetzt, sondern auch immer wieder gegen internationales Völkerrecht verstossen hat. Wer betreibt da «geopolitische Machtspiele» und wer kann sich mit gutem Gewissen eine «Friedensmacht» nennen? Man stelle sich einmal das Umgekehrte vor: Die Sowjetunion wäre 1991 nicht zu Ende gegangen und Deutschland, Österreich, Griechenland und Jugoslawien wären heute Mitglieder des Warschauer Pakts. Würden sich da die verbliebenen EU- bzw. NATO-Staaten nicht auch mit allen Mitteln gegen ein weiteres Vordringen der sowjetischen Machtsphäre zu wehren versuchen?

Samstag, 26. April 2014

Alles auf alle verteilt

Das ist meine Vision einer neuen Zeit: Es ist weltweit alles auf alle gleichmässig verteilt, Nahrung, Wohnraum, Anteil an den natürlichen Ressourcen, Arbeit, Wohlstand, Zugang zu Wissen und Bildung, Lebensglück, Spiel und Kunst, Freiheit, Frieden. Und weil das so einfach ist und so einleuchtend und so sehr in Übereinstimmung mit der innersten Sehnsucht jedes Menschen zum Zeitpunkt seiner Geburt, muss es, wenn erst einmal jegliche Fremdbestimmung überwunden ist, eines Tages Wirklichkeit werden. «Eine andere Welt», sagt die indische Schriftstellerin Arundhati Roy, «ist nicht nur möglich, sie ist im Entstehen. An einem ruhigen Tag kann ich, wenn ich sehr genau hinhöre, ihren Atem hören.»

Dienstag, 8. April 2014

Der Islam eine Krankheit?

Der ägyptische Autor Hamed Abdel-Samad vertritt in einem im heutigen «Tages-Anzeiger» veröffentlichten Interview die These, dass «der Islam aus verschiedenen Gründen faschistische Züge aufweist: Er unterteilt die Welt in Gläubige und Ungläubige; er schliesst Andersdenkende aus; er strebt die Weltherrschaft an; er tötet seine Gegner». Und weiter: «Die Quelle der Krankheit liegt im Ursprung des Islam. Das Problem der islamischen Welt ist, dass man entweder nicht anerkennen will, dass man krank ist, oder dass man stets die falsche Diagnose stellt und deshalb zur falschen Medizin greift.»
   Wenn Abdel-Samad Moslems und Islamisten unbesehen in den gleichen Topf wirft, macht er genau das Gleiche, was er dem Islam zum Vorwurf macht, nämlich die Welt in «Gut» und «Böse» einzuteilen, nur dass für ihn der Islam das Böse ist und der Rest der Welt das Gute. Zudem widerspricht er sich, wenn er einerseits sagt, das Christentum sei früher auch gewalttätig und kriegerisch gewesen, habe sich aber über die Jahrhunderte zu einer aufgeklärten Religion weiterentwickelt, während er dem Islam jegliche Chance zu einer ähnlichen Entwicklung abspricht mit der Begründung, der Islam sei schon von seiner «Quelle» an eine «Krankheit». Völlig einseitig und verzerrend auch sein Hinweis auf Beziehungen Adolf Hitlers zu islamistischen Gruppen wie etwa der Muslimbrüderschaft. Objektiverweise müsste Abdel-Samad dann nämlich auch auf die Beziehungen Hitlers zum Christentum hinweisen und in Erinnerung rufen, dass Hitler seinen Antisemitismus und damit den Völkermord an den Juden zum «Willen Gottes» und sich selber zu dessen Vollstrecker erklärte: «Indem ich mich der Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.»
   Glaubwürdiger wäre es, wenn Abdel-Samad nicht eine einzige Religion, den Islam, anprangern würde, sondern den Fundamentalismus als solchen, der sich in jeder Religion und Weltanschauung verstecken kann. Wenn er nämlich dem Islam vorwirft, «die Welt in Gläubige und Ungläubige zu unterteilen» und «Andersdenkende auszuschliessen», dann müsste er gar nicht so weit suchen, denn das tun zum Beispiel auch die Evangelikalen inmitten unseres so genannt «modernen» und «aufgeklärten» Christentums. Auch die Behauptung Abdel-Samads, es gäbe «keinen moderaten Islam», ist schlicht und einfach falsch. So gibt es zum Beispiel in der Schweiz gemäss einer Studie der ETH-Forschungsstelle für Sicherheit gerade mal einige Dutzend gewaltbereite Islamisten, und dies bei einer Gesamtzahl von rund 450‘000 in der Schweiz lebenden Moslems!
   Hamed Abdel-Samad lobt die Aufklärung, die Menschenrechte, den Fortschritt und die Demokratie. Er selber tut mit seinen einseitigen und diffamierenden Ausführungen, der Angstmacherei und dem Schüren von Feindbildern genau das Gegenteil.

Montag, 7. April 2014

Wenn es still wird

Sie schreien kreuz und quer
schlagen sich Parolen und jegliche Art
vermeintlicher Wahrheiten um die Köpfe
stampfen sich rechthaberisch gegenseitig in
Grund und Boden
sprechen
taub verschiedene Sprachen
reden aneinander vorbei
und doch
wenn es still
wird
am Morgen früh die Vögel
wenn es still wird
über alle Grenzen hinweg
im Osten wie im Westen
im Norden wie im Süden
wenn es still wird
sprechen
über Nacht
alle Menschen die
GLEICHE SPRACHE
singen das
GLEICHE LIED der
unendlichen Sehnsucht nach
LIEBE.

Samstag, 5. April 2014

Die Maus und der Elefant oder die seltsame EU-Phorie der Linken

Seit über 20 Jahren ist die Frage, ob die Schweiz nicht doch noch früher oder später Mitglied der Europäischen Union werden sollte, eines, um nicht zu sagen das grosse, regelmässig wiederkehrende, grösste Emotionen auslösende Hauptthema der gesamtschweizerischen Politdiskussion. Je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, gehört man zu einem von zwei Blöcken, an deren einem äussersten Ende die SVP mit einer konsequent ablehnenden Position und an deren anderem äussersten Ende die SP mit einer ebenso konsequent zustimmenden Position stehen. Und je nachdem, welchem dieser beiden Blöcke man sich zugehörig fühlt, beschwört man dann die «Rettung nationaler Eigenständigkeit und Selbstbestimmung» oder aber die «grenzüberschreitende Öffnung» sowie die «Mitgestaltung eines gesamteuropäischen Wirtschaftsraums» als das allerhöchste Ziel, dem alle anderen unterzuordnen seien.
    Doch Hand aufs Herz: Ist da nicht, über mehr als 20 Jahre hinweg, eine Maus nach und nach zu einem Elefanten herangewachsen? Was macht denn diesen Unterschied, ob die Schweiz ein Mitglied der EU ist oder nicht, überhaupt noch aus? Sind wir, ohne es zu wollen und obwohl wir uns noch immer so erbittert mit Argumenten und Gegenargumenten die Köpfe einschlagen, nicht sowieso schon längst ein Mitglied der EU? Zwar nicht formell und nicht auf dem Papier und nicht gemäss irgendeinem offiziell unterzeichneten Staatsvertrag, aber umso mehr ganz faktisch und real. Denn wo, bitte, unterscheidet sich die Schweiz in der gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Alltagsrealität noch grundsätzlich von irgendeinem der EU-Länder? Ist nicht alles schon längst – EU hin oder her – nichts anderes als ein riesiger, nicht nur europaweit, sondern weltweit nach sich immer ähnlicher werdenden Regeln und Gesetzmässigkeiten funktionierender Machtkoloss genannt Kapitalismus? Fühlen sich Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Apartheid in der Schweiz bloss deshalb, weil wir kein EU-Land sind, für die davon Betroffenen weniger schmerzvoll an als in Italien, Frankreich oder Griechenland? Tut es einer Schweizer Familie, die nach 20 Jahren infolge einer massiven Mietzinserhöhung ihre liebgewordene Wohnung am Stadtrand verlassen muss, weniger weh, als es einer Familie in Spanien oder Portugal wehtut, wenn sie vom gleichen Schicksal betroffen ist? Fressen sich die Bagger, Betonflächen und Bürohäuser hierzulande weniger aggressiv als in Belgien, Dänemark oder den Niederlanden bis in die letzten noch unüberbauten Gebiete vor? Nehmen die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen den Reichsten und Ärmsten hierzulande weniger schnell zu als in Grossbritannien, Lettland oder Österreich? Und ist es nicht so, dass selbst die letzten Schweizer «Eigenheiten» im Bereich öffentlicher Dienstleistungen und sozialer Sicherheiten, die uns bisher noch vom übrigen Europa unterschieden haben, ebenfalls im Begriffe sind, wegzuschmelzen wie ein paar letzte Reste Schnee im Frühling, nicht zuletzt deshalb, weil – Gipfel der Absurdität – ausgerechnet jene, die sich als die vermeintlichen «Retter» schweizerischer «Selbstbestimmung» im Kampf gegen die «Mächte von aussen» aufspielen, die kapitalistische Keule so genannter «Effizienzsteigerung» gar noch um einiges unerbittlicher sausen lassen als ihre politischen «Gegner».
   Dass die «Rechte» dieses falsche Spiel um eine Frage, die faktisch längst beantwortet ist, munter weitertreibt, ist ja – angesichts der daraus resultierenden Abstimmungserfolge – durchaus verständlich. Die «Linke» aber täte wohl gut daran, sich aus der Scheindiskussion über mögliche Vor- und Nachteile eines EU-Beitritts so rasch wie möglich zu verabschieden und sich auf jene politischen Fragen und Themen zu konzentrieren, die tatsächlich von Bedeutung sind für das Wohlergehen der Menschen, nicht innerhalb oder ausserhalb bestimmter Grenzen, seien es schweizerische oder europäische, sondern über alle Grenzen hinweg in einer Welt, in der wir alle im gleichen Boot sitzen. Denn, wie es Martin Luther King dereinst so treffend formulierte: «Entweder lernen wir, als Brüder und Schwestern miteinander zu überleben, oder aber, wir werden als Narren miteinander untergehen.»

Dienstag, 1. April 2014

Sozialismus gescheitert?

Wenn Michael Hermann in seinem Kommentar im heutigen «Tages-Anzeiger» der SP und insbesondere den Juso vorhält, ihre ehemaligen sozialistischen Vorbilder wie Kuba, Venezuela oder die DDR seien allesamt gescheitert, dann heisst dies noch lange nicht, dass der Kapitalismus die einzige mögliche Wirtschaftsform ist, die eine Zukunft hat. Im Gegenteil. Der Kapitalismus kann nur schon deshalb längerfristig keine Zukunft haben, weil er mit seinem Dogma eines unbeschränkten Wirtschaftswachstums früher oder später die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen derart umfassend und unwiederbringlich zerstört haben wird, dass an ein Weiterleben der Menschheit auf diesem Planeten nicht mehr zu denken sein wird. Wir brauchen daher dringender denn je eine Alternative zum Kapitalismus. Ob man diese als «sozialistisch» bezeichnen möchte, ist nicht die entscheidende Frage. Das Entscheidende ist, dass es sich um eine von Grund auf neue und andere Wirtschaftsordnung handeln muss, die sich nicht mehr an den immer absurdere Ausmasse annehmenden Gewinnerwartungen des Kapitals orientiert, sondern an den realen Lebensbedürfnissen von Mensch und Natur in Gegenwart und Zukunft.

Mittwoch, 26. März 2014

So lustvoll und erfolgreich lernen wie in den ersten Lebensjahren...

Das eindrückliche Porträt der privaten Alternativschule «Villa Monte» in Galgenen SZ im heutigen Tages-Anzeiger führt uns vor Augen, wie schön und zugleich erfolgreich Schule sein könnte, wenn sie sich ausschliesslich an den echten, natürlichen Lernbedürfnissen der Kinder orientiert. In der «Villa Monte» lernen die Kinder nur das, worauf sie gerade Lust haben, ohne Prüfungen, Noten und Hausaufgaben. Zwar gibt es auch Erwachsene, die an dieser Schule arbeiten, das Meiste aber lernen die Kinder voneinander. Gemäss der Philosophie der italienischen Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori sind Alltag, Räume und Umgebung der Schule so gestaltet, dass die Kinder und Jugendlichen in Freiheit nach ihrem eigenen inneren Entwicklungsplan wachsen und lernen können. «Die Tüchtigkeit und der Erfolg der Schulabgängerinnen und Schulabgänger in ihrem späteren Berufsleben», liest man im Evaluationsbericht des kantonalen Bildungsdepartements, «bestätigen die aussergewöhnliche Lernart in der Villa Monte.»
   Das Beispiel der «Villa Monte» zeigt, dass sämtliche aktuelle Diskussionen rund um den Lehrplan 21 im Grunde völlig überflüssig sind und reine Zeitverschwendung. Lehrpläne hin oder her – Kinder können immer nur dann erfolgreich etwas Neues lernen, wenn die innere „Uhr“ ihrer geistigen Entwicklung dafür reif ist. Da diese innere Uhr aber bei jedem Kind auf eine je andere Art und Weise und in einem je anderen Tempo tickt, führen allgemeinverbindliche Lehrpläne bloss dazu, dass diese inneren Uhren laufend gestört und erfolgreiches Lernen dadurch systematisch verhindert wird. Das Einzige, was wir brauchen, sind Lernstätten, in denen die Kinder und Jugendlichen wieder so frei und selbstbestimmt lernen können, wie sie das alle mit grösstem Erfolg in ihren ersten Lebensjahren bereits getan haben. Alles Weitere ergibt sich von selber.

Donnerstag, 6. März 2014

Zur Liebe geboren

Meine Enkelin Elina ist ein halbes Jahr alt. Jede Zeit, die ich mit ihr verbringen darf, ist wie das Eintauchen in eine wunderbare Welt voller Geheimnisse, die mir ohne sie verschlossen blieben.
   Dass alle Menschen Babys so lieben und auch alle Babys alle Menschen um sich herum so lieben, ist doch ein Zeichen dafür, dass der Mensch zur Liebe geboren wird, nicht zum Hass. Nur warum fällt uns dann die Liebe, wenn wir älter werden, oft so schwer?

Dienstag, 11. Februar 2014

Masslosigkeit: Ja, aber...

Wenn die SVP – wie sie das in ihrem Abstimmungskampf für die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» getan hat – behauptet, «Masslosigkeit schade», hat sie ja eigentlich recht. Nur müsste es ehrlicherweise heissen: «Kapitalismus schadet». Denn diese Masslosigkeit, dieses unbeirrte Festhalten an der Ideologie eines endlosen Wirtschaftswachstums, das Hin- und Herschieben von Gütern quer über alle Grenzen hinweg zu reinen Profitzwecken, die explodierenden Bodenpreise, Wohnungsmieten und Krankenkassenprämien, die wachsende Zahl von Menschen, die dem steigenden Leistungsdruck nicht gewachsen sind und zu «Sozialfällen» werden, die Abwanderung einer immer grösseren Zahl von Menschen aus Ländern, in denen es überhaupt keine Erwerbsmöglichkeiten gibt, in andere Länder, wo es im Vergleich zur vorhandenen Bevölkerung viel zu viele Erwerbsmöglichkeiten gibt, das damit verbundene, immer drastischere Auseinanderklaffen zwischen Zentren des Reichtums und Zonen der Armut, das rücksichtslose Verprassen natürlicher Ressourcen auf Kosten zukünftiger Generationen, die unaufhaltsame Verbetonierung wertvollsten Kulturlandes, die überfüllten Züge, die verstopften Strassen – dies alles ist ja nicht über Nacht zufällig vom Himmel gefallen, sondern ist nichts anderes als die ganz natürliche und logische Folge jenes Wirtschaftssystems, das man Kapitalismus nennt, und das nicht auf soziale Gerechtigkeit und schon gar nicht auf den Respekt gegenüber Mensch und Natur ausgerichtet ist, sondern einzig und allein darauf, mithilfe der Herstellung, des Handels und des Verkaufs einer unablässig wachsenden Menge an Gütern einen möglichst grossen und unablässig wachsenden materiellen Profit zu erzeugen. 
    Das Fatale daran ist, dass ausgerechnet die SVP, die bei jeder Gelegenheit für die grösstmögliche «Freiheit» und Selbstentfaltung einer durch und durch wachstumsorientierten kapitalistischen Wirtschaftslogik eintritt und sich gegen jegliche staatliche Kontrolle oder Einmischung zur Wehr setzt, gleichzeitig aus den zerstörerischen und lebensfeindlichen Auswirkungen dieses Systems am allermeisten politisches Kapital zu schlagen vermag, indem es ihr nämlich immer und immer wieder gelingt, die in der Bevölkerung vorhandenen Ängste und Frustrationen auf eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen, die so genannten «Ausländerinnen» und «Ausländer», umzulenken.
    Erst eine umfassende und tiefgreifende Analyse der Prinzipien und daraus resultierenden Auswirkungen des kapitalistischen Denk-, Geld- und Wirtschaftssystems kann diesen Schwindel ans Licht bringen. So lange dies nicht erfolgt, kann keine echte Alternative zu jener «Masslosigkeit» in Form der kapitalistischen Wachstumsideologie entwickelt werden, der wir alle zusammen – ob «Linke» oder «Rechte», ob SP oder SVP – gleichermassen unterworfen sind. Einfach gesagt: Wir brauchen eine von Grund auf neue, nicht auf die Bedürfnisse des nach seiner Selbstvermehrung schreienden Kapitals, sondern auf die Bedürfnisse von Mensch und Natur ausgerichtete Wirtschaftsordnung. Alles andere ist reine Symptombekämpfung, Augenwischerei und Selbsttäuschung.

Donnerstag, 6. Februar 2014

Wäre dieser Traum denn so absurd und fern aller Realität?

Es wäre mir schon genug schmerzvoll unter die Haut gegangen, dieses Bild vor ein paar Tagen in der Zeitung, auf dem eine syrische Flüchtlingsfamilie in einem jordanischen Zeltlager zu sehen ist. Als ich dann aber, beim Anblick des jüngsten der vier Kinder im Arm seiner Mutter, unwillkürlich an mein Enkelkind erinnert wurde, schätzungsweise fast gleichen Alters, eingehüllt in fast das gleiche weisse Kapuzenmäntelchen und mit einem Gesicht, das dem meines Enkelkindes so unglaublich ähnlich sieht, erfasste mich ein Gefühl so unbeschreiblicher Traurigkeit, dass ich dieses Bild seither nicht mehr aus meinem Kopf gebracht habe. Und je länger ich es vor mir sehe, umso weniger gelingt es mir, mich von dieser Traurigkeit wieder zu befreien.
   Ich musste diesem Kind einen Namen geben. Etwas, was ich schon machte, als ich selber ein Kind war: einem Menschen oder einem Tier, das mein Mitgefühl erweckt hatte, einen Namen zu geben. So war es mir viel näher, ich konnte mit ihm sprechen, es wurde zu einem Teil von mir. Wenn man im Internet nach einem syrischen Mädchennamen sucht, findet man zuallererst den Namen Zahira. Zahira, das Mädchen aus Syrien. Und Elina, mein Enkelkind, das Mädchen aus der Schweiz. Um die gleiche Zeit herum zwischen August und September des Jahres 2013 geboren, eingehüllt in fast das gleiche weisse Kapuzenmäntelchen in den Armen einer Mutter. Und doch mit einer Lebensgeschichte dieser paar wenigen Monate, die unterschiedlicher nicht sein könnte. Die ersten vier oder fünf Monate im Leben von Zahira und im Leben von Elina. Es war der Augenblick, als eine Frage um die andere durch meinen Kopf zu schiessen begann… 
    Gab es zu der Zeit, als Elina in einem sauberen, hellen und mit allem Komfort ausgestatteten schweizerischen Gebärsaal zur Erde kam, in jener Gegend, wo Zahiras Mutter ihr Kind erwartete, überhaupt irgendwo noch ein einigermassen funktionstüchtiges Spital? Oder wäre nur schon eine wärmende Decke ein Luxus gewesen, an den man nicht einmal zu denken wagte? Wo verbrachte Zahira, während Elina wenige Tage später von ihren Eltern nach Hause gebracht und in ihr süsses Himmelkinderbettchen voller bunter Spielzeuge gelegt wurde, die ersten Tage und Nächte ihres Lebens? In einem eiskalten Kellergewölbe unter den Trümmern ihres soeben in die Luft gesprengten Hauses? In einem Stall Seite an Seite mit ein paar Ziegen und Schafen, die wenigstens ein ganz klein wenig Wärme spendeten? Oder schon mitten auf der Flucht irgendwo auf einem offenen, sturmgepeitschten Feld unter Bombengewitter und dem ohrenbetäubenden Krachen feuerspeiender Raketen? Hatten nicht Elina und Zahira im Augenblick ihrer Geburt noch genau die gleiche Sehnsucht gehabt nach einer Welt voller Liebe und Frieden? Wer und weshalb und was bestimmt, ob ein Kind inmitten des Paradieses oder inmitten der Hölle auf Erden geboren wird?
   Weiter und weiter, jede Frage ergibt eine nächste. Was hat Zahiras Mutter und was haben ihre Geschwister in ihrem so jungen Leben schon alles gesehen, wie viel Angst, wie viele Schmerzen, wie grosse Kälte und wie brennenden Hunger schon ertragen müssen? Gehörten sie vielleicht zu jener Gruppe von Flüchtlingen im Grenzgebiet zum Libanon, von denen anfangs Dezember 2013 berichtet wurde, sie seien von einem Rudel hungriger Wölfe angegriffen worden? Kam vielleicht der Vater ums Leben, als er seine Frau und seine Kinder zu retten versuchte? Oder war er schon längst zuvor als Soldat im Krieg ums Leben gekommen, haben sie überhaupt Nachricht von ihm, wissen sie überhaupt, ob er noch lebt? Ist Zahiras Schwester, die am rechten Bildrand zu sehen ist, vielleicht eines jener zahllosen Mädchen und jungen Frauen, die in den bald drei Jahren, da der syrische Bürgerkrieg nun schon wütet, Opfer einer oder gar mehrfacher, häufigst mit bestialischer Grausamkeit verübten Vergewaltigung geworden sind? Und hat Zahiras Bruder, der mit seinen tieftraurigen Augen in eine ferne Leere zu starren scheint, vielleicht mitansehen müssen, wie Menschen getötet oder gefoltert wurden, oder ist er gar selber von einem «Freiheitskämpfer» gefoltert worden, der ihn auf diese Weise dazu brachte, den Aufenthaltsort seines Vaters preiszugeben und ihn dadurch dem Tod auszuliefern? Und weshalb ist das Gesicht der Mutter nicht zu sehen? Versteckt sie es aus lauter Scham über das Elend ihrer Familie oder ist ihr Gesicht vielleicht durch einen Angriff mit Gift, Säure oder durch Granatensplitter so entstellt, dass sie es niemandem zu zeigen wagt?
   Und doch, inmitten allen Elends, dem auch die schlimmsten Gedankengänge nicht annähernd gerecht zu werden vermöchten: das Wunder der Liebe, die Hand des Mädchens am rechten Bildrand ganz sachte ans Händchen ihrer kleinen Schwester gedrückt, den Mund zu einem sanften Kuss geformt an ihrem Ärmchen, das zweite Mädchen, links, als versuchte sie mit äusserster Anstrengung, unter Aufbietung aller ihrer Kräfte, ihren kleinen Bruder aus seiner Trauer und seiner Leere herauszureissen, ihm ein klein wenig Mut zu machen, ihm ein kleines bisschen Lebensfreude, vielleicht sogar ein Lächeln abzugewinnen. Woher kommt das alles, inmitten dieser unermesslichen Grausamkeit, diese Liebe, diese Zärtlichkeit, diese Sanftmut, diese Kraft in einem Kind, das selber bis zum Äussersten geschunden wurde und dennoch nicht die Hoffnung aufgegeben hat, der kleinen Schwester oder dem kleinen Bruder, dem es noch viel schlechter geht als ihm selber, ein wenig Trost zu geben, ihn ein bisschen aufzuheitern und auf andere Gedanken zu bringen? Ich sehe die Männer vor mir, die jetzt gerade an der «Friedenskonferenz» in Genf an langen, mit reichlich Speis und Trank gedeckten Tischen sitzen, mit finsterer Miene und verschlossenem Gesicht, und sich bis zum Äussersten dagegen wehren, mit jenen, die sie als ihre «Feinde» bezeichnen, auch nur einen einzigen Blick oder ein einziges Wort auszutauschen. Und ich sehe die Hand des kleinen Mädchens, ihren weichen Mund, den leeren Blick des kleinen Bruders und diese dunkle Stelle, wo sich das Gesicht der Mutter noch immer verbirgt. Weshalb sitzen an den Tischen in Genf nur die Männer und nicht eine einzige Frau und erst recht nicht ein einziges Kind?
   Mehr als sechs Millionen Kinder, Frauen und Männer haben seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs ihre Heimat verlassen müssen, viele von ihnen haben alles verloren, was ihnen lieb gewesen war, die besten Freunde, Nachbarn, Geschwister, den Vater, die Mutter, die eigenen Kinder. Die meisten von ihnen sind immer noch auf der Flucht, andere wiederum mussten aus Gegenden, in denen sie sich schon sicher wähnten, von neuem fliehen, und wieder andere sind seit Wochen und Monaten in Dörfern oder Städten eingekesselt, welche von der Aussenwelt vollkommen abgeschnitten sind, ohne jeglichen Zugang zu Lebensmitteln und medizinischer Versorgung. Westliche Reisende, die Syrien vor dem Bürgerkrieg besucht hatten, berichteten übereinstimmend, sie seien in wenigen anderen Ländern so gastfreundlich aufgenommen worden wie in diesem Land und nirgendwo sonst hätten die Menschen so viel gelacht und seien so fröhlich gewesen wie hier. Das ist jetzt alles Vergangenheit.
   Und auf einmal empfinde ich nur noch ein riesiges Gefühl von Scham. Ich schäme mich für dieses «reichste» Land der Welt, in dem ich lebe. Ich schäme mich für ein Land, in dem sich die Menschen hinter den immer dickeren Mauern ihres Wohlstands verstecken und so tun, als würden sie vom Rest der Welt nichts sehen und nichts hören. Ich schäme mich für ein Land, in dem eine Mehrheit der Bevölkerung unlängst einer Abschaffung jenes über Jahrzehnte bewährten Botschaftsasyls zugestimmt hat, das gerade für die Schwächsten unter den Flüchtlingen, die Frauen und die Kinder, nicht selten die einzige und letzte Möglichkeit bot, auf legalem Weg lebensbedrohender Verfolgung zu entrinnen und an einem sicheren Ort Schutz zu finden. Ich schäme mich für ein Land, dessen Antwort auf die Schreckensbilder tot oder halbverhungert an den Küsten Südeuropas aufgefundener Flüchtlinge einzig und allein darin besteht, noch effizientere Überwachungssysteme zu entwickeln und die Grenzen noch undurchlässiger zu machen, als sie es schon sind. Ich schäme mich für ein Land, in dem ein ganzes Dorf, als gäbe es keine grösseren Probleme, an der Urne darüber abzustimmen hat, ob es zwei aus Somalia stammenden Mädchen gestattet werden soll oder nicht, während des Schulunterrichts ein Kopftuch zu tragen – statt die beiden Mädchen mit aller Herzlichkeit willkommen zu heissen, sich dafür zu interessieren, wie es ihnen geht, was sie, bevor sie in die Schweiz kamen, alles erlebt hatten und was man dazu beitragen könnte, ihnen das Leben in ihrer neuen Heimat so angenehm wie nur möglich zu machen. Ich schäme mich für ein Land, in dem «Fremde» in erster Linie als Feinde und Eindringlinge betrachtet werden und nicht als Gäste und Freunde. Ich schäme mich für ein Land, wo es schon fast als «normal» angesehen wird, andere Menschen bloss aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Nationalität oder ihrer Religionszugehörigkeit in «Gut» und «Böse» einzuteilen. Und ich schäme mich für ein Land, dessen Parlament ausgerechnet in einer Zeit, da sich weltweit mehr Menschen als je zuvor auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Armut befinden, nichts Gescheiteres weiss, als Waffenexporte – nachdem dies seit vielen Jahren unzulässig gewesen war – zukünftig erneut auch wieder in solche Staaten zuzulassen, wo elementarste Menschenrechte mit Füssen getreten werden.
   Waren wir nicht alle im Augenblick unserer Geburt, genauso wie Elina und Zahira und alle anderen Kinder, die je geboren wurden und noch geboren werden, voller Sehnsucht nach einer Welt endloser Liebe und ewigen Friedens? Wann und weshalb hören diese Liebe, diese Sanftmut, diese Zärtlichkeit, die ein jedes Kind von Anbeginn seines Lebens in sich trägt, bei so vielen Menschen im Laufe ihres Älterwerdens irgendwann auf, um bei den einen in Gewalt, bei den anderen in Hass und bei wiederum anderen in puren Eigennutz oder totale Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer umzuschlagen? Ist die Hoffnung, eines Tages möge die Welt so aussehen, wie sie von uns allen als Kindern einmal erträumt war, denn so absurd und fern aller Realität? Die Menschheit hat es geschafft, bis in die tiefsten Tiefen der Ozeane und bis zu den äussersten Planeten des Sonnensystems vorzudringen, Informationen jeglichen beliebigen Umfangs und jeglicher beliebiger Komplexität innerhalb von Sekundenbruchteilen über die ganze Erde zu verbreiten, ganze Körperteile vom einen Organismus in einen anderen umzupflanzen, Krankheiten, die während Tausenden von Jahren als unheilbar galten, zu heilen, lebende und tote Materie in ihre allerkleinsten, unsichtbaren Teile zu zerlegen, neu zusammenzusetzen und zu Stoffen und Substanzen jeglicher gewünschter Qualität umzubilden. Und da sollten wir allen Ernstes nicht fähig sein eine Zukunft zu erschaffen, in der ein jedes Kind ganz unabhängig davon, wo es geboren wird, das gleiche Recht auf ein Leben in Liebe und Frieden hat und es weder dem Zufall, noch dem Schicksal, noch irgendetwas anderem überlassen wird, darüber zu entscheiden, ob ein Kind, wenn es geboren wird, in der Hölle landet oder im Paradies?

Donnerstag, 30. Januar 2014

Eine Selektionsschule kann nicht zugleich eine Lernschule sein

Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, dass eine Selektionsschule zugleich eine Lernschule ist. Die schulische Selektion ist der Todfeind jenes Lernens, das in den ersten Lebensjahren bei allen Kindern so hoffnungslos und so erfolgreich begonnen hatte. Und es gibt kein «anderes» Lernen als dieses. Das stürzt nicht nur die Kinder in der Schule in ein unausweichliches Dilemma, sondern auch die Lehrkräfte. Ihre – pädagogische – Aufgabe würde ja eigentlich darin bestehen, den Kindern möglichst viel Wissen und möglichst viele Fertigkeiten beizubringen und ihnen alles so gut zu erklären und alles so lange und gründlich zu üben, bis alle Kinder alles könnten. Die Folge wäre, dass alle Kinder, wenn man denn ihre Lernleistungen überhaupt noch mit Noten messen müsste, schliesslich die Bestnote erhalten würden. Der Lehrer weiss aber von Anfang an, dass ihm dies gar nicht erlaubt wäre. Der Selektionsauftrag zwingt ihn dazu, zu viel Stoff zu vermitteln, zu wenig gründlich zu erklären und zu wenig Zeit zu geben, denn nur so kann er seine Klasse in «gute» und «schlechte» Schülerinnen und Schüler unterteilen. So absurd ist dieses System, dass ein Lehrer, wenn eine Prüfung zu «gut» ausfällt, in aller Regel gezwungen ist, im Nachhinein den Notendurchschnitt künstlich zu senken, indem er den Bewertungsmassstab so weit nach unten drückt, bis der Notendurschnitt mit ungefähr 4,5 dort liegt, wo er «normalerweise» liegen sollte. Mit anderen Worten: Er muss seine Schülerinnen und Schüler nachträglich dafür bestrafen, dass sie zu viel, zu gut und zu gründlich gelernt haben bzw. er sie bei ihrem Lernen zu gut und zu erfolgreich unterstützt hat.
   Das Dilemma, in dem sich die Lehrkräfte befinden, geht aber noch viel weiter. Ständig sind sie gezwungen, die Kinder zu belügen und ihnen etwas vorzugaukeln, was sie – als deren «Vorbilder»! – gleichzeitig selber vor deren Augen täglich mit Füssen treten. Sie bemühen sich den Kindern weiszumachen, alle könnten alles lernen, wenn sie sich nur genug anstrengten, dabei wissen sie ganz genau, dass sie ihren Unterricht so gestalten müssen, dass es gar nicht möglich ist, dass alle alles lernen können. Was wiederum zur Folge hat, dass jene Kinder, die das Ziel ihres Lernens nicht erreichen, daraus den Schluss ziehen, sie seien selber daran schuld – der Lehrer hat ihnen ja nie erklärt, dass der Grund ganz ein anderer ist. Die zweite grosse Lüge der Lehrer ist die, dass sie bei jeder Gelegenheit an das «soziale Verhalten» der Kinder appellieren, die Wichtigkeit der «Sozialkompetenz» betonen und die Kinder dazu anspornen, kameradschaftlich zu sein und einander zu helfen – während sie sie gleichzeitig einem gnadenlosen gegenseitigen Konkurrenzkampf um Noten und Zukunftschancen aussetzen, bei dem es letztlich um nichts anderes geht als darum, unbedingt als «Sieger» und auf keinen Fall als «Verlierer» hervorzugehen. Besonders drastisch zeigt sich das immer dann, wenn der gleiche Lehrer, der seine Schülerinnen und Schüler soeben zu Hilfsbereitschaft und gegenseitiger Anteilnahme ermahnt hat, ohne mit der Wimper zu zucken dem erstbesten Schüler, den er dabei erwischt, wie er während einer Prüfung einem anderen einen Notizzettel zuschiebt, eine Strafstunde aufbrummt oder sein Prüfungsergebnis für ungültig erklärt.
   Die staatliche Volksschule war seit ihren ersten Anfängen bis heute nie etwas anderes als eine Selektionsschule. Daran haben auch die zahlreichen kleineren und grösseren «Reformen», welche im Laufe der Zeit der Schule nach und nach ein neues, «moderneres» Gesicht zu verleihen versucht haben, nicht grundlegend etwas verändert, der innerste Kern ist immer noch genau der gleiche. Wenn die Schule als Selektionsschule zu Ende gehen soll, um einer echten Lernstätte Platz zu machen, dann bedeutet dies daher weit mehr als eine weitere Reform im Zuge vieler anderer. Wenn die Selektionsschule zu Ende geht, dann geht auch fast alles andere, was Schule heute noch ausmacht, zu Ende. Wie ein Kartenhaus, das in sich zusammenfällt, weil es an der Zeit ist, nicht nur die alt gewordenen Karten, sondern auch das Fundament, auf dem sie aufgebaut wurden, auszuwechseln und das Ganze von Grund auf neu aufzubauen…

(Auszug aus meinem Buch LERNZENTREN STATT SCHULEN - EIN PÄDAGOGISCHES MODELL FÜR DIE ZUKUNFT, das voraussichtlich im Frühsommer 2014 erscheinen wird.)

Montag, 27. Januar 2014

Respektlos und dumm

Ein unter anderem auch in unserer Lokalzeitung, dem «Werdenberger & Obertoggenburger» vom 27. Januar, veröffentlichtes Inserat des der SVP nahestehenden «Egerkinger-Komitees» zur Abstimmung über die «Masseneinwanderungsinitiative» zeigt eine Grafik, bei der eine rote Kurve unten links im Jahre 1970 beginnt und dann immer steiler nach oben steigt, um irgendwo etwa beim Jahr 2040 zu enden. Im rot gefüllten Feld, das die wachsende Anzahl des muslimischen Anteils an der Schweizer Bevölkerung darstellen soll, ist eine in eine schwarze Burka gekleidete Frau zu sehen und zuoberst steht in roten Lettern: «Bald 1 Million Muslime?». Weshalb und vor wem will uns dieses Inserat Angst machen? Von allen Muslimen, die ich persönlich kenne, entsprechen kein Einziger und keine Einzige dem Bild, das in diesem Inserat gezeichnet wird. Alle Muslime, die ich kenne, sind Menschen wie du und ich, gehen täglich zur Schule oder zur Arbeit, fallen weder durch ihre Kleidung noch durch ihr Benehmen speziell auf, sind offen, umgänglich und praktizieren ihre Religion nicht anders als die allermeisten Christinnen und Christen, nämlich ohne jeglichen Fanatismus und ohne Angehörige anderer Religionsgruppen davon überzeugen zu wollen, ihre Religion sei besser als andere. Menschen bloss auf ihre Religionszugehörigkeit zu reduzieren und dieser erst noch eine einseitig negative Symbolik zuzuschreiben, ist nicht nur unanständig und respektlos, sondern auch so ziemlich das Dümmste, was man tun kann, werden doch genau dadurch Vorurteile und Hassgefühle hervorgerufen, die es vorher gar nicht gegeben hat. Dass die Befürworter der «Masseneinwanderungsinitiative» zu solchen Mitteln greifen müssen, zeigt, dass sie für ihr Anliegen offensichtlich keine besseren und wirklich überzeugenden Argumente haben.

Dienstag, 21. Januar 2014

Verzerrte Darstellung der Realität

Eine Karikatur auf der Titelseite des heutigen «Tages-Anzeigers» zeigt den syrischen Präsidenten Assad als blutrünstigen Diktator, dem es, mit lachendem Gesicht, offensichtlich Spass bereitet, zuzuschauen, wie Damaskus in Flammen steht, von Detonationen erschüttert und von Militärflugzeugen bombardiert wird. Eine Darstellung, welche die Realität sehr einseitig und verzerrt widergibt. Der bekannte Nahostexperte Arnold Hottinger spricht vielmehr von einer Gewaltspirale, in der sich das Assad-Regime und seine Gegner seit bald drei Jahren mit steigender gegenseitiger Brutalität bekämpfen. Den syrischen Bürgerkrieg bloss als Machwerk eines despotischen, skrupellosen Herrschers zu erklären, greift zu kurz und blendet die unbeschreiblichen Gräueltaten aus, die in diesem Krieg insbesondere auch von den Kämpfern der Al-Qaida und der Al-Nusra-Front begangen werden. Deshalb kann der Syrienkonflikt auch nicht einfach durch eine Absetzung Assads gelöst werden, sondern nur dadurch, dass sich sämtliche Konfliktparteien in gemeinsamem Dialog, so wie dies nun an der Konferenz in Genf versucht wird, auf eine friedliche Zukunft dieses über alle Massen leidgeprüften Landes einigen.

Sonntag, 19. Januar 2014

Notwendige Auseinandersetzung mit der Grenze zwischen Humor und Menschenverachtung

In einem Interview mit dem Tages-Anzeiger vom 18. Januar vertritt Kabarettist und TV-Moderator Victor Giacobbo die Ansicht, es sei «lächerlich», dass der Theatermacher Samuel Schwarz und der Lyriker Raphael Urweider gegen das Schweizer Fernsehen eine Strafanzeige einreichen wollen wegen eines Sketchs, in dem Birgit Steinegger eine dunkelhäutige Frau gespielt hat. Diese Aussage Giacobbos erstaunt mich sehr, da die Art und Weise, wie die Person dargestellt wurde – mit rollenden Augen, dickem Hintern und einer rudimentären Sprache –, eindeutig diskriminierend wirkt und wegen ihres rassistischen, in den USA als «Blackfacing» bezeichneten Hintergrunds dort schon lange verpönt ist. Künstlerische Freiheit in Ehren, sie hat aber dort ihre Grenze, wo Humor in Respektlosigkeit und Menschenverachtung umzuschlagen beginnt. Dass diese Grenze in letzter Zeit zunehmend durchlässiger zu werden scheint und die Intervention von Schwarz und Urweider daher auch im Sinne einer Signalwirkung überaus wichtig ist, zeigt auch das Beispiel des mit dem Deutschen Kabarettpreis 2013 ausgezeichneten Schweizer Satirikers Andreas Thiel, der sich gerne über ganze Völker, Religionen und Kulturen diffamierend auslässt, Vorurteile und Feindbilder schürt und sich kürzlich in einem Zeitungsinterview sogar zur Aussage verstieg, Muslime seien «irgendwo im Übergang zwischen Neandertaler und Homo sapiens stecken geblieben.» Wenn denen, die so etwas nicht lustig finden, vorgehalten wird, sie seien humorlos, dann müsste man wohl wieder einmal in Erinnerung rufen, dass wahrer Humor nichts zu tun hat mit Menschenverachtung und Hass, sondern im Gegenteil: mit Respekt, Sorgfalt und der Kunst, sich nicht über andere, sondern über sich selber lustig zu machen.

Donnerstag, 9. Januar 2014

Eine Welt ohne Glühbirnen, ohne die Zauberflöte und ohne jegliches Wissen um die Grenzen von Raum und Zeit

Sie sei, so ist über die 2008 verstorbene Pina Bausch zu erfahren, in ihrer Kindheit «ein Zappelphilipp und voller Phantasie» gewesen. Die in einem Gasthaus Aufgewachsene sei jeweils, statt ins Bett zu gehen, unter einen der Wirtshaustische gekrochen und habe unbemerkt den Gesprächen der Erwachsenen gelauscht oder sei in den Garten hinausgeschlichen, um in einem verfallenen Treibhaus Theater zu spielen. Schliesslich hätten Hotelgäste den Eltern geraten, die Tochter doch ins Kinderballett zu schicken. Und so begann die Karriere jener Frau, die heute zu den bisher weltweit bedeutendsten Tänzerinnen und Choreografinnen zählt.
   Heute würde man einem solchen Mädchen, statt es in eine Ballettschule zu schicken, höchstwahrscheinlich viel eher eine tägliche Dosis Ritalin verabreichen, das ist billiger, wirkt schneller und ist erst noch viel weniger aufwendig…
   Pina Bausch, Leonardo da Vinci, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig Van Beethoven, Thomas Edison, Albert Einstein, Dustin Hoffmann, Jennifer Lopez, Christoph Kolumbus, Edgar Allan Poe, Bill Gates, Michael Jackson, Michael Phelps, Carl Lewis, Astrid Lindgren, Benjamin Franklin, Jack Nicolson, Winston Churchill, George Bernard Shaw, Salvador Dali und Abraham Lincoln – sie alle, wenn man ihre Biografien näher betrachtet, waren mit allergrösster Wahrscheinlichkeit in ihrer Kindheit das, was man heute als «ADHS-Kinder» bezeichnet – jene Kinder also, die unter der traditionellen Lehrplan- und Selektionsschule wohl noch unvergleichlich viel mehr leiden als alle anderen Kinder. Denn einen grösseren Gegensatz als den zwischen einer auf Gehorsam, Unterwürfigkeit, Konformität und Gleichschaltung ausgerichteten Schule und diesen «wild» und voller Witz und Phantasie geborenen Kinder kann man sich nun wirklich nicht mehr vorstellen. Sie, die «ADHS-Kinder», machen nicht nur Fehler, sie sind sozusagen mit allem, was sie tun, der Fehler in Person, indem sie nämlich gleich alles falsch machen, was man nur falsch machen kann: Sie reden, wenn sie zuhören sollten, sie stellen Fragen, wenn sie antworten sollten, sie rennen umher, wenn sie ruhig sein sollten, und wenn sie schlafen sollten, sind sie wach.
   Dabei wäre es gar nicht so schwierig, dies alles für einmal auch aus einer ganz anderen, entgegengesetzten Perspektive aus zu betrachten. So wie der Deutsche Bundesverband Arbeitskreis «Überaktives Kind» in einer im Jahre 2002 in Kooperation mit der Humboldt-Universität Berlin durchgeführten Studie, in der bewusst davon ausgegangen wurde, sich im Zusammenhang mit «ADHS» nicht primär auf die Defizite zu konzentrieren, sondern explizit auch Stärken und besondere Fähigkeiten der betroffenen Kinder zu erfassen. In die entsprechenden Befragungen einbezogen wurden sowohl Eltern von «ADHS-Kindern» wie auch Lehrkräfte, Kinder- und Jugendärzte. Helga Simchen, Kinderärztin und Psychotherapeutin, fasste die Ergebnisse dieser Studie wie folgt zusammen: «ADHS-Kinder denken assoziativ und vielschichtig, sie können mithilfe ihrer Fantasie ganz neue Wahrnehmungen erzeugen. Sie sind in der Lage, alles zu durchschauen und direkt zu hinterfragen; sie sind hellwach, wenn etwas sie interessiert. Ihnen kann man nichts vormachen, ihnen entgeht nichts. Sie hören und sehen mehr, als für andere wahrnehmbar ist. Ist ihr Interesse einmal geweckt, ist ihre Wissbegierde riesengross. Sie können sich dann sehr gut konzentrieren und Hervorragendes leisten. Sie besitzen einen Scharfblick mit starker Intuition, wie ihn sonst keiner hat. Sie können auch Gedachtes als real erleben, dank ihrer guten Fantasie. Sie denken vorwiegend visuell, das heisst, sie stellen sich alles in Bildern vor, da sie sich diese besser einprägen können. Ausgerüstet mit einem guten Selbstbewusstsein können Menschen mit ADHS gerade aufgrund ihrer aussergewöhnlichen Fähigkeiten in ihrem Leben Grosses vollbringen.»
   Sollen Schulen dereinst durch Lernzentren ersetzt werden, so müsste dies nur schon alleine diesen Kindern zuliebe geschehen. Denn es reicht bei weitem nicht aus, solchen «schwierigen», «auffälligen» oder «andersartigen» Kindern bloss ein wenig mehr Raum, ein wenig mehr Zuwendung und ein wenig mehr Liebe zu geben. Es reicht erst recht auch nicht aus, «störende» oder «lästige» Verhaltensweisen auf irgendeine auch noch so «sanfte» und «humane» Weise «wegzutherapieren». Nein, es geht um etwas grundsätzlich anderes. Nämlich darum, die bisherige Sichtweise buchstäblich auf den Kopf zu stellen: auszugehen davon, dass die «Wahrheit» nie in irgendeiner von Menschen geschaffenen Institution liegen kann, und sei sie noch so ausgeklügelt und «perfekt», sondern immer nur bei jedem einzelnen Kind, das hier und heute neu geboren wird und in diesem Augenblick uns allen, die schon hier sind, die Chance bietet, alles Bisherige neu und anders zu sehen. Oder könnten wir uns allen Ernstes eine Welt erwünschen, in der sich alle Menschen immer ähnlicher werden, kein Kind mehr nachts unter den Tisch der Erwachsenen kriecht, um heimlich ihren Gesprächen zu lauschen, niemand mehr sich nächtelang den Kopf zerbricht um irgendetwas gerade noch so Unvorstellbares zu erfinden wie Glühbirnen oder neue Gesetze für die Unendlichkeiten von Raum und Zeit, nie mehr so wundervolle Kunstwerke geschaffen werden wie die Mona Lisa oder die Zauberflöte und kein Mensch mehr auf so verrückte Ideen kommt wie auf geografischen Karten Länder und Kontinente einzuzeichnen, die es in der Wirklichkeit noch gar nicht gibt?

(Auszug aus meinem Buch LERNZENTREN STATT SCHULEN - EIN PÄDAGOGISCHES MODELL FÜR DIE ZUKUNFT, das voraussichtlich im Frühsommer 2014 erscheinen wird.)