Dienstag, 11. Februar 2014

Masslosigkeit: Ja, aber...

Wenn die SVP – wie sie das in ihrem Abstimmungskampf für die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» getan hat – behauptet, «Masslosigkeit schade», hat sie ja eigentlich recht. Nur müsste es ehrlicherweise heissen: «Kapitalismus schadet». Denn diese Masslosigkeit, dieses unbeirrte Festhalten an der Ideologie eines endlosen Wirtschaftswachstums, das Hin- und Herschieben von Gütern quer über alle Grenzen hinweg zu reinen Profitzwecken, die explodierenden Bodenpreise, Wohnungsmieten und Krankenkassenprämien, die wachsende Zahl von Menschen, die dem steigenden Leistungsdruck nicht gewachsen sind und zu «Sozialfällen» werden, die Abwanderung einer immer grösseren Zahl von Menschen aus Ländern, in denen es überhaupt keine Erwerbsmöglichkeiten gibt, in andere Länder, wo es im Vergleich zur vorhandenen Bevölkerung viel zu viele Erwerbsmöglichkeiten gibt, das damit verbundene, immer drastischere Auseinanderklaffen zwischen Zentren des Reichtums und Zonen der Armut, das rücksichtslose Verprassen natürlicher Ressourcen auf Kosten zukünftiger Generationen, die unaufhaltsame Verbetonierung wertvollsten Kulturlandes, die überfüllten Züge, die verstopften Strassen – dies alles ist ja nicht über Nacht zufällig vom Himmel gefallen, sondern ist nichts anderes als die ganz natürliche und logische Folge jenes Wirtschaftssystems, das man Kapitalismus nennt, und das nicht auf soziale Gerechtigkeit und schon gar nicht auf den Respekt gegenüber Mensch und Natur ausgerichtet ist, sondern einzig und allein darauf, mithilfe der Herstellung, des Handels und des Verkaufs einer unablässig wachsenden Menge an Gütern einen möglichst grossen und unablässig wachsenden materiellen Profit zu erzeugen. 
    Das Fatale daran ist, dass ausgerechnet die SVP, die bei jeder Gelegenheit für die grösstmögliche «Freiheit» und Selbstentfaltung einer durch und durch wachstumsorientierten kapitalistischen Wirtschaftslogik eintritt und sich gegen jegliche staatliche Kontrolle oder Einmischung zur Wehr setzt, gleichzeitig aus den zerstörerischen und lebensfeindlichen Auswirkungen dieses Systems am allermeisten politisches Kapital zu schlagen vermag, indem es ihr nämlich immer und immer wieder gelingt, die in der Bevölkerung vorhandenen Ängste und Frustrationen auf eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen, die so genannten «Ausländerinnen» und «Ausländer», umzulenken.
    Erst eine umfassende und tiefgreifende Analyse der Prinzipien und daraus resultierenden Auswirkungen des kapitalistischen Denk-, Geld- und Wirtschaftssystems kann diesen Schwindel ans Licht bringen. So lange dies nicht erfolgt, kann keine echte Alternative zu jener «Masslosigkeit» in Form der kapitalistischen Wachstumsideologie entwickelt werden, der wir alle zusammen – ob «Linke» oder «Rechte», ob SP oder SVP – gleichermassen unterworfen sind. Einfach gesagt: Wir brauchen eine von Grund auf neue, nicht auf die Bedürfnisse des nach seiner Selbstvermehrung schreienden Kapitals, sondern auf die Bedürfnisse von Mensch und Natur ausgerichtete Wirtschaftsordnung. Alles andere ist reine Symptombekämpfung, Augenwischerei und Selbsttäuschung.

Donnerstag, 6. Februar 2014

Wäre dieser Traum denn so absurd und fern aller Realität?

Es wäre mir schon genug schmerzvoll unter die Haut gegangen, dieses Bild vor ein paar Tagen in der Zeitung, auf dem eine syrische Flüchtlingsfamilie in einem jordanischen Zeltlager zu sehen ist. Als ich dann aber, beim Anblick des jüngsten der vier Kinder im Arm seiner Mutter, unwillkürlich an mein Enkelkind erinnert wurde, schätzungsweise fast gleichen Alters, eingehüllt in fast das gleiche weisse Kapuzenmäntelchen und mit einem Gesicht, das dem meines Enkelkindes so unglaublich ähnlich sieht, erfasste mich ein Gefühl so unbeschreiblicher Traurigkeit, dass ich dieses Bild seither nicht mehr aus meinem Kopf gebracht habe. Und je länger ich es vor mir sehe, umso weniger gelingt es mir, mich von dieser Traurigkeit wieder zu befreien.
   Ich musste diesem Kind einen Namen geben. Etwas, was ich schon machte, als ich selber ein Kind war: einem Menschen oder einem Tier, das mein Mitgefühl erweckt hatte, einen Namen zu geben. So war es mir viel näher, ich konnte mit ihm sprechen, es wurde zu einem Teil von mir. Wenn man im Internet nach einem syrischen Mädchennamen sucht, findet man zuallererst den Namen Zahira. Zahira, das Mädchen aus Syrien. Und Elina, mein Enkelkind, das Mädchen aus der Schweiz. Um die gleiche Zeit herum zwischen August und September des Jahres 2013 geboren, eingehüllt in fast das gleiche weisse Kapuzenmäntelchen in den Armen einer Mutter. Und doch mit einer Lebensgeschichte dieser paar wenigen Monate, die unterschiedlicher nicht sein könnte. Die ersten vier oder fünf Monate im Leben von Zahira und im Leben von Elina. Es war der Augenblick, als eine Frage um die andere durch meinen Kopf zu schiessen begann… 
    Gab es zu der Zeit, als Elina in einem sauberen, hellen und mit allem Komfort ausgestatteten schweizerischen Gebärsaal zur Erde kam, in jener Gegend, wo Zahiras Mutter ihr Kind erwartete, überhaupt irgendwo noch ein einigermassen funktionstüchtiges Spital? Oder wäre nur schon eine wärmende Decke ein Luxus gewesen, an den man nicht einmal zu denken wagte? Wo verbrachte Zahira, während Elina wenige Tage später von ihren Eltern nach Hause gebracht und in ihr süsses Himmelkinderbettchen voller bunter Spielzeuge gelegt wurde, die ersten Tage und Nächte ihres Lebens? In einem eiskalten Kellergewölbe unter den Trümmern ihres soeben in die Luft gesprengten Hauses? In einem Stall Seite an Seite mit ein paar Ziegen und Schafen, die wenigstens ein ganz klein wenig Wärme spendeten? Oder schon mitten auf der Flucht irgendwo auf einem offenen, sturmgepeitschten Feld unter Bombengewitter und dem ohrenbetäubenden Krachen feuerspeiender Raketen? Hatten nicht Elina und Zahira im Augenblick ihrer Geburt noch genau die gleiche Sehnsucht gehabt nach einer Welt voller Liebe und Frieden? Wer und weshalb und was bestimmt, ob ein Kind inmitten des Paradieses oder inmitten der Hölle auf Erden geboren wird?
   Weiter und weiter, jede Frage ergibt eine nächste. Was hat Zahiras Mutter und was haben ihre Geschwister in ihrem so jungen Leben schon alles gesehen, wie viel Angst, wie viele Schmerzen, wie grosse Kälte und wie brennenden Hunger schon ertragen müssen? Gehörten sie vielleicht zu jener Gruppe von Flüchtlingen im Grenzgebiet zum Libanon, von denen anfangs Dezember 2013 berichtet wurde, sie seien von einem Rudel hungriger Wölfe angegriffen worden? Kam vielleicht der Vater ums Leben, als er seine Frau und seine Kinder zu retten versuchte? Oder war er schon längst zuvor als Soldat im Krieg ums Leben gekommen, haben sie überhaupt Nachricht von ihm, wissen sie überhaupt, ob er noch lebt? Ist Zahiras Schwester, die am rechten Bildrand zu sehen ist, vielleicht eines jener zahllosen Mädchen und jungen Frauen, die in den bald drei Jahren, da der syrische Bürgerkrieg nun schon wütet, Opfer einer oder gar mehrfacher, häufigst mit bestialischer Grausamkeit verübten Vergewaltigung geworden sind? Und hat Zahiras Bruder, der mit seinen tieftraurigen Augen in eine ferne Leere zu starren scheint, vielleicht mitansehen müssen, wie Menschen getötet oder gefoltert wurden, oder ist er gar selber von einem «Freiheitskämpfer» gefoltert worden, der ihn auf diese Weise dazu brachte, den Aufenthaltsort seines Vaters preiszugeben und ihn dadurch dem Tod auszuliefern? Und weshalb ist das Gesicht der Mutter nicht zu sehen? Versteckt sie es aus lauter Scham über das Elend ihrer Familie oder ist ihr Gesicht vielleicht durch einen Angriff mit Gift, Säure oder durch Granatensplitter so entstellt, dass sie es niemandem zu zeigen wagt?
   Und doch, inmitten allen Elends, dem auch die schlimmsten Gedankengänge nicht annähernd gerecht zu werden vermöchten: das Wunder der Liebe, die Hand des Mädchens am rechten Bildrand ganz sachte ans Händchen ihrer kleinen Schwester gedrückt, den Mund zu einem sanften Kuss geformt an ihrem Ärmchen, das zweite Mädchen, links, als versuchte sie mit äusserster Anstrengung, unter Aufbietung aller ihrer Kräfte, ihren kleinen Bruder aus seiner Trauer und seiner Leere herauszureissen, ihm ein klein wenig Mut zu machen, ihm ein kleines bisschen Lebensfreude, vielleicht sogar ein Lächeln abzugewinnen. Woher kommt das alles, inmitten dieser unermesslichen Grausamkeit, diese Liebe, diese Zärtlichkeit, diese Sanftmut, diese Kraft in einem Kind, das selber bis zum Äussersten geschunden wurde und dennoch nicht die Hoffnung aufgegeben hat, der kleinen Schwester oder dem kleinen Bruder, dem es noch viel schlechter geht als ihm selber, ein wenig Trost zu geben, ihn ein bisschen aufzuheitern und auf andere Gedanken zu bringen? Ich sehe die Männer vor mir, die jetzt gerade an der «Friedenskonferenz» in Genf an langen, mit reichlich Speis und Trank gedeckten Tischen sitzen, mit finsterer Miene und verschlossenem Gesicht, und sich bis zum Äussersten dagegen wehren, mit jenen, die sie als ihre «Feinde» bezeichnen, auch nur einen einzigen Blick oder ein einziges Wort auszutauschen. Und ich sehe die Hand des kleinen Mädchens, ihren weichen Mund, den leeren Blick des kleinen Bruders und diese dunkle Stelle, wo sich das Gesicht der Mutter noch immer verbirgt. Weshalb sitzen an den Tischen in Genf nur die Männer und nicht eine einzige Frau und erst recht nicht ein einziges Kind?
   Mehr als sechs Millionen Kinder, Frauen und Männer haben seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs ihre Heimat verlassen müssen, viele von ihnen haben alles verloren, was ihnen lieb gewesen war, die besten Freunde, Nachbarn, Geschwister, den Vater, die Mutter, die eigenen Kinder. Die meisten von ihnen sind immer noch auf der Flucht, andere wiederum mussten aus Gegenden, in denen sie sich schon sicher wähnten, von neuem fliehen, und wieder andere sind seit Wochen und Monaten in Dörfern oder Städten eingekesselt, welche von der Aussenwelt vollkommen abgeschnitten sind, ohne jeglichen Zugang zu Lebensmitteln und medizinischer Versorgung. Westliche Reisende, die Syrien vor dem Bürgerkrieg besucht hatten, berichteten übereinstimmend, sie seien in wenigen anderen Ländern so gastfreundlich aufgenommen worden wie in diesem Land und nirgendwo sonst hätten die Menschen so viel gelacht und seien so fröhlich gewesen wie hier. Das ist jetzt alles Vergangenheit.
   Und auf einmal empfinde ich nur noch ein riesiges Gefühl von Scham. Ich schäme mich für dieses «reichste» Land der Welt, in dem ich lebe. Ich schäme mich für ein Land, in dem sich die Menschen hinter den immer dickeren Mauern ihres Wohlstands verstecken und so tun, als würden sie vom Rest der Welt nichts sehen und nichts hören. Ich schäme mich für ein Land, in dem eine Mehrheit der Bevölkerung unlängst einer Abschaffung jenes über Jahrzehnte bewährten Botschaftsasyls zugestimmt hat, das gerade für die Schwächsten unter den Flüchtlingen, die Frauen und die Kinder, nicht selten die einzige und letzte Möglichkeit bot, auf legalem Weg lebensbedrohender Verfolgung zu entrinnen und an einem sicheren Ort Schutz zu finden. Ich schäme mich für ein Land, dessen Antwort auf die Schreckensbilder tot oder halbverhungert an den Küsten Südeuropas aufgefundener Flüchtlinge einzig und allein darin besteht, noch effizientere Überwachungssysteme zu entwickeln und die Grenzen noch undurchlässiger zu machen, als sie es schon sind. Ich schäme mich für ein Land, in dem ein ganzes Dorf, als gäbe es keine grösseren Probleme, an der Urne darüber abzustimmen hat, ob es zwei aus Somalia stammenden Mädchen gestattet werden soll oder nicht, während des Schulunterrichts ein Kopftuch zu tragen – statt die beiden Mädchen mit aller Herzlichkeit willkommen zu heissen, sich dafür zu interessieren, wie es ihnen geht, was sie, bevor sie in die Schweiz kamen, alles erlebt hatten und was man dazu beitragen könnte, ihnen das Leben in ihrer neuen Heimat so angenehm wie nur möglich zu machen. Ich schäme mich für ein Land, in dem «Fremde» in erster Linie als Feinde und Eindringlinge betrachtet werden und nicht als Gäste und Freunde. Ich schäme mich für ein Land, wo es schon fast als «normal» angesehen wird, andere Menschen bloss aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Nationalität oder ihrer Religionszugehörigkeit in «Gut» und «Böse» einzuteilen. Und ich schäme mich für ein Land, dessen Parlament ausgerechnet in einer Zeit, da sich weltweit mehr Menschen als je zuvor auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Armut befinden, nichts Gescheiteres weiss, als Waffenexporte – nachdem dies seit vielen Jahren unzulässig gewesen war – zukünftig erneut auch wieder in solche Staaten zuzulassen, wo elementarste Menschenrechte mit Füssen getreten werden.
   Waren wir nicht alle im Augenblick unserer Geburt, genauso wie Elina und Zahira und alle anderen Kinder, die je geboren wurden und noch geboren werden, voller Sehnsucht nach einer Welt endloser Liebe und ewigen Friedens? Wann und weshalb hören diese Liebe, diese Sanftmut, diese Zärtlichkeit, die ein jedes Kind von Anbeginn seines Lebens in sich trägt, bei so vielen Menschen im Laufe ihres Älterwerdens irgendwann auf, um bei den einen in Gewalt, bei den anderen in Hass und bei wiederum anderen in puren Eigennutz oder totale Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer umzuschlagen? Ist die Hoffnung, eines Tages möge die Welt so aussehen, wie sie von uns allen als Kindern einmal erträumt war, denn so absurd und fern aller Realität? Die Menschheit hat es geschafft, bis in die tiefsten Tiefen der Ozeane und bis zu den äussersten Planeten des Sonnensystems vorzudringen, Informationen jeglichen beliebigen Umfangs und jeglicher beliebiger Komplexität innerhalb von Sekundenbruchteilen über die ganze Erde zu verbreiten, ganze Körperteile vom einen Organismus in einen anderen umzupflanzen, Krankheiten, die während Tausenden von Jahren als unheilbar galten, zu heilen, lebende und tote Materie in ihre allerkleinsten, unsichtbaren Teile zu zerlegen, neu zusammenzusetzen und zu Stoffen und Substanzen jeglicher gewünschter Qualität umzubilden. Und da sollten wir allen Ernstes nicht fähig sein eine Zukunft zu erschaffen, in der ein jedes Kind ganz unabhängig davon, wo es geboren wird, das gleiche Recht auf ein Leben in Liebe und Frieden hat und es weder dem Zufall, noch dem Schicksal, noch irgendetwas anderem überlassen wird, darüber zu entscheiden, ob ein Kind, wenn es geboren wird, in der Hölle landet oder im Paradies?