Sonntag, 15. Dezember 2013

Weihnachten im Libanon

Nachrichten auf Radio FM1, gestern Mittag. Der Nahe Osten sei von einem der härtesten Winter seit Jahrzehnten betroffen, in Israel hätten Zehntausende Haushalte keinen Strom und im Libanon seien innert kürzester Zeit 40 Zentimeter Schnee gefallen. Punkt, Ende. Es folgt ein Werbespot von Ikea St. Gallen: Was man dort für schöne Dinge kaufen könne und dass allen Kindern, die mit ihrer Familie zum Weihnachtseinkauf kommen, sogar ein kostenloses Mittagessen offeriert werde. Doch meine Gedanken sind beim härtesten Winter und dem Schnee in Libanon hängen geblieben. Weshalb wurde in den Nachrichten zwar erwähnt, dass in Israel Zehntausende Haushalte keinen Strom hätten, nicht aber, dass im Nordosten Libanons gegenwärtig Hunderttausende von Flüchtlingen aus dem syrischen Bürgerkrieg praktisch schutzlos heftigsten Stürmen und eisigsten Temperaturen ausgesetzt sind? Und weshalb wurde nicht darüber berichtet, dass ein grosser Teil der Zelte, in denen die Flüchtlinge notdürftigst untergebracht sind, bereits unter der zentnerschweren Schneelast eingebrochen sind? Und dass die meisten Kinder, die sich auf der Flucht aus dem Kriegsgebiet zu den Zeltlagern durch den tiefen Schnee hindurchkämpfen müssen, an ihren Füssen nicht einmal Socken tragen, höchstens ein Paar zerlumpter Sandalen? Und dass sich die hungernden und frierenden Flüchtlingsfamilien, die all ihr Hab und Gut verloren haben, zu alledem noch mit hungrigen Ratten und Wölfen herumschlagen müssen?
   Es kann kein Zufall sein. Heute Mittag, Nachrichten auf Radio SRF3. Wieder werden die israelischen Haushalte erwähnt, die immer noch ohne Strom sind. Und wieder kein Wort über das Elend der syrischen Flüchtlinge im Libanon inmitten eines der härtesten Winter seit Jahrzehnten. Wird all dieses unermessliche Elend etwa deshalb verschwiegen, weil es so ganz und gar nicht in diese «friedliche» Zeit passt, die wir mit Advent und Weihnachten gerade am Feiern sind? Oder liegt der Grund eher darin, dass wir uns einen dem europäischen Standard vergleichbaren israelischen Haushalt einfach viel besser vorstellen können und uns daher auch viel leichter in die Situation einer solchen Familie, der seit Tagen kein Strom zur Verfügung steht, einfühlen können als in eine Familie, die irgendwo ausserhalb aller Zivilisation, zu Tode erschöpft, ausgehungert und halbverfroren, von einem Rudel Wölfe angegriffen wird – obwohl zwischen dem einen und dem anderen bloss ein paar wenige hundert Kilometer liegen?
   Weihnachten 2013. War Jesus nicht auch ein Flüchtlingskind? Und fand das Ereignis, das wir in wenigen Tagen unter dem Weihnachtsbaum in unseren behaglich geheizten Stuben feiern werden, nicht in unmittelbarer Nähe jenes Gebietes statt, von dem wir, wenn kein Wunder geschieht, wohl schon bald die ersten Meldungen über verhungerte, erfrorene oder von Wölfen getötete syrische Flüchtlinge hören werden? Doch Hauptsache, das Weihnachtsgeschäft läuft und die Wirtschaftszahlen zeigen wieder nach oben und die Kinder bei Ikea können ihre Bäuche so richtig vollschlagen. Frohe Weihnachten!

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