Mittwoch, 18. Dezember 2013

Nur einmal im Leben Skiferien in Arosa oder St. Moritz

Heute Morgen hat sie ihre letzten paar Franken zusammengekratzt und es ist ihr erster freier Tag nach sieben mal neun Stunden Kunden bedienen bis zum Umfallen und andere gehen jetzt Ski fahren nach Arosa oder St. Moritz und sie kratzt ihre letzten paar Franken zusammen. Fünf Tage muss es noch reichen aber den Blick von dem auf dem Sozialamt braucht sie jetzt nicht, da verzichtet sie lieber auf die Bananen und die Schokolade, auch wenn Manfred noch so quengelt. 
   Die verdammten Salzstengel und Schleckwaren immer auf der Augenhöhe und in Reichweite des Kleinen. Nein Manfred, leg das zurück. Aber das Mädchen dort drüben hat doch auch. Ja, aber du nicht. Vielleicht nächste Woche. Oder übernächste. Hinten, bei der Fleischabteilung, wartet Angela, die Gute hat's nicht vergessen. Rasch die Wurst, abgelaufen und nicht mehr verkaufbar, für Carla beiseite gesteckt und jetzt ins Einkaufskörbchen gelegt, bloss dass es niemand sieht, die an der Kasse weiss Bescheid, 30 Rappen sind in Ordnung, die Wurst wäre ja sonst im Abfalleimer gelandet.   
   Zahnpasta brauchen wir, ohne das geht's einfach nicht. Zwei Eier, dann haben wir ein bisschen was zur Wurst dazu. Das Brot am Morgen können wir auch ohne Butter und Marmelade essen. Das Cola kannst du vergessen. Und die Geburtstagsparty bei McDonalds gibt's dann vielleicht nächstes Jahr, wenn du sieben bist. Oder übernächstes, wenn ich vielleicht einen besseren Job habe. Oder wenn wir vielleicht eine billigere Wohnung finden. Oder wenn vielleicht die auf dem Sozialamt denken, dass man doch auch mal wem eine Freude machen könnte, so ganz extra und ausserhalb jeglicher Norm.  
   Ob es die Zahnpasta ist oder die Wohnungsmiete, die abgelaufene Wurst oder die Krankenkassenprämie, die zwei Eier, das Cola oder der McDonalds: Ganz oben, unsichtbar, sitzt fast immer ein Mann. Bei jedem Handgriff, wo immer etwas hergestellt, gekauft oder verkauft wird, bei jedem der letzten Frankenstücke bis Ende Monat, wo immer eine Ware ihren Besitzer wechselt, wo immer Geld von der einen Hand in die andere hinüberwechselt, wo immer du ein bisschen ärmer wirst, wird er, der unsichtbare Mann, ein bisschen reicher. Fünf- oder zehntausend oder mehr Carlas quälen sich an diesem Morgen mit schmerzenden Beinen und Rücken von viel zu viel Arbeit und viel zu viel Traurigkeit mit ihren viel zu lauten, zappeligen, nervigen kleinen Manfreds an endlosen Warenhausgestellen entlang und stellen die Zahnpasta noch einmal zurück, weil es doch noch Dringenderes gäbe, und nehmen sie dann doch wieder, weil sie den schlechten Atem im eigenen Mund einfach nicht mehr ertragen. Und jedes Mal, bei jeder Zahnpasta und bei jeder noch so abgelaufenen Wurst, bei den Eiern und bei dem halben Liter Milch, der wieder für zwei Tage reichen muss, klingelt eine unsichtbare Kasse mit. Wenn Carla ihr Häufchen auf dem Fliessband aufgeschichtet und ihre letzten paar Franken aus der Geldtasche zusammengeklaubt hat, dann hat sich die schwarzgezackte Linie an der Wand hinter dem unsichtbaren Mann wieder um einen Bruchteil eines Millimeters nach oben bewegt, und das millionenfach, wo immer eine Zahnpasta, zwei Eier, ein halber Liter Milch und eine abgelaufene Wurst über ein Fliessband rollen. Reiche werden nicht reich, weil sie viel arbeiten, viele Schmerzen in den Beinen und im Rücken und quengelnde Kinder am Rockzipfel haben. Reiche werden reich, weil sie viel besitzen. Und Arme werden auch dann noch ärmer, wenn sie bis zum Umfallen gearbeitet haben und trotz aller Schmerzen ihre Geduld mit dem kleinen Manfred immer noch nicht verloren und spät nachts den leeren Tisch abgeräumt haben und nur noch davon träumen, auch einmal im Leben, nur ein einziges Mal, in Arosa oder in St. Moritz mit dem kleinen Manfred Skiferien machen zu können.

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