Mittwoch, 18. Juni 2014

Lieber Herr Schweizer, von wegen «Jugos» und so

Lieber Herr Schweizer. Soeben haben Sie sich wieder einmal fürchterlich aufgeregt über jenen «Jugo» in Ihrer Nachbarschaft, von dem Sie mir schon einige Male erzählten. Wieder hätten Sie ihn in seinem BMW herumfahren sehen, ihn, dessen Frau, wie Sie in Erfahrung gebracht hätten, gleichzeitig auf dem Rathaus Sozialhilfegeld bezöge und erst noch in mehreren Haushalten schwarz arbeite. Aber bei der Mentalität dieser Leute, so meinten Sie, wäre das ja auch kein Wunder. Die würden einem das Fell über die Ohren ziehen, wo sie nur könnten.
   Lieber Herr Schweizer. Ich verstehe Ihren Unmut durchaus. Aber gleichzeitig frage ich mich, ob solche Dinge, die uns da in die Augen stechen und uns oft so masslos ärgern, nicht auch ein klein wenig mit uns selber zu tun haben, mehr als uns wahrscheinlich lieb ist. Wie ich das meine? Nun gut, lassen Sie es mich erklären…
   Versuchen wir das Ganze mal aus einer etwas grösseren Distanz zu betrachten. Ja genau, das meine ich: Die Tatsache, dass die Schweiz das reichste Land der Welt ist. Und dass wir diesen Reichtum nicht so sehr unserer eigenen Arbeit und auch nicht den Schätzen unseres Bodens und unserer Natur verdanken, sondern unter anderem zum Beispiel dem so genannten Bankgeheimnis, das über Jahrzehnte dafür sorgte, dass Unsummen von Geldern, welche brutalste Diktatoren quer über alle Kontinente aus ihren in bitterster Armut lebenden Völkern herausgepresst hatten, in der Schweiz gehortet wurden, um hier wiederum als Voraussetzung zu dienen für eine Vielzahl weiterer blühender Geschäfte, von denen wir alle miteinander bis heute und weiterhin profitieren. Während einem halben Jahrtausend, seit der Zeit des Sklavenhandels und der kolonialistischen Einverleibung der südlichen Hemisphäre durch die Industrie- und Militärnationen des Nordens, zog die Schweiz unaufhörlichen Nutzen aus jenem zutiefst ausbeuterischen Preisverhältnis zwischen billigsten, aus dem Süden importierten Rohstoffen und teuersten, an die dortigen Eliten exportierten Luxusgütern, wodurch sich die Früchte des Südens nach und nach ins Gold des Nordens verwandelten und die am meisten mit guter Erde und gutem Klima gesegneten Teile der Welt schliesslich zu jenen Hungergebieten wurden, wo heute insgesamt eine Milliarde Menschen nicht genug zu essen haben, während wir uns den Wahnsinn leisten können, rund einen Drittel der gesamthaft gekauften Lebensmittel in den Müll zu werfen. Damit nicht genug. Ohne je in unserem eigenen Boden auch nur einen einzigen Tropfen Erdöl oder auch nur einen einzigen Diamanten gefunden zu haben, gehört die Schweiz dennoch bis heute zu den grössten Profiteuren im internationalen Rohstoffhandel. Selbst in der Herstellung und dem Verkaufen von Waffen und Rüstungsgütern, womit hierzulande Reichtum geschaffen wird durch Zerstörung und Elend in vielen anderen Ländern fern von uns, gehört die Schweiz, relativ zur eigenen Bevölkerungszahl, weiterhin zur Weltspitze. Und wenn es darum geht, als kleines Entgelt für dies alles wenigstens die Gelder für so genannte Entwicklungshilfe – die nur einen winzigen Bruchteil all jener zuvor geschaffenen Profite ausmacht – ein klein wenig zu erhöhen oder ein paar hundert zusätzliche Flüchtlinge aus fernen Kriegs- und Elendsgebieten aufzunehmen, dann will die überwiegende Mehrheit der Schweizer Bevölkerung absolut nichts davon wissen oder hat für jene unverbesserlichen «Gutmenschen», die sich für solcherlei einsetzen, höchstens ein müdes Lächeln übrig. 
    Gäbe es dereinst so etwas wie ein Jüngstes Gericht, dann glaube ich nicht, dass wir Schweizer dabei besonders gut wegkämen. Wahrscheinlich wären wir in der langen Menschenschlange, die vor diesem Gericht antreten müsste, ziemlich weit vorne mit dabei und unser «Jugo» vermutlich viel, viel weiter hinten und die Flüchtlinge aus Nigeria oder Somalia, die im einen oder anderen unserer Warenhäuser ein Paar Turnschuhe geklaut hatten, die wären wahrscheinlich so weit hinten, dass wir sie überhaupt nicht mehr sehen würden.
   Könnte es sein, dass uns der «Jugo» vor allem deshalb so ärgert, weil er ganz offensichtlich etwas zur Schau trägt und ans Tageslicht bringt, was in jedem Einzelnen von uns selber ebenso tief verborgen liegt? Ist es unser eigenes schlechtes Gewissen, das uns beunruhigt? Sind wir nicht alle kleinere und grössere Gauner in diesem weltweiten Riesengaunersystem genannt Kapitalismus, in dem es schon längst zur obersten, allgemeinen, selbstverständlichen Regel geworden ist, dass jeder den anderen übers Ohr haut und ihm das Fell über die Ohren zieht, wo er nur kann? Bloss dass die einen sich den Luxus leisten können, dies ganz «legal» zu tun, im Rahmen so genannt demokratisch erlassener Gesetze, während die anderen dazu gezwungen sind und ihnen schlicht und einfach gar nichts anderes übrig bleibt, als sich ihre – nach der grossen Party der Reichen am Boden liegen gebliebenen – Brosamen dann halt ausserhalb dieser Gesetze, mit allen möglichen «illegalen» Mitteln zusammen zu klauben.
   Lieber Herr Schweizer. Lassen Sie Ihrem Ärger weiterhin bloss freien Lauf. Aber vergessen Sie dabei nicht, auch von Zeit zu Zeit in Ihren eigenen Spiegel zu schauen. Und vielleicht sind wir dann eines Tages so weit, dass wir von anderen nur jenes Mass an Fairness erwarten und verlangen können, das wir ihnen mit unserem eigenen Beispiel selber auch tatsächlich vorleben. Schön wäre es.

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