Samstag, 5. April 2014

Die Maus und der Elefant oder die seltsame EU-Phorie der Linken

Seit über 20 Jahren ist die Frage, ob die Schweiz nicht doch noch früher oder später Mitglied der Europäischen Union werden sollte, eines, um nicht zu sagen das grosse, regelmässig wiederkehrende, grösste Emotionen auslösende Hauptthema der gesamtschweizerischen Politdiskussion. Je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, gehört man zu einem von zwei Blöcken, an deren einem äussersten Ende die SVP mit einer konsequent ablehnenden Position und an deren anderem äussersten Ende die SP mit einer ebenso konsequent zustimmenden Position stehen. Und je nachdem, welchem dieser beiden Blöcke man sich zugehörig fühlt, beschwört man dann die «Rettung nationaler Eigenständigkeit und Selbstbestimmung» oder aber die «grenzüberschreitende Öffnung» sowie die «Mitgestaltung eines gesamteuropäischen Wirtschaftsraums» als das allerhöchste Ziel, dem alle anderen unterzuordnen seien.
    Doch Hand aufs Herz: Ist da nicht, über mehr als 20 Jahre hinweg, eine Maus nach und nach zu einem Elefanten herangewachsen? Was macht denn diesen Unterschied, ob die Schweiz ein Mitglied der EU ist oder nicht, überhaupt noch aus? Sind wir, ohne es zu wollen und obwohl wir uns noch immer so erbittert mit Argumenten und Gegenargumenten die Köpfe einschlagen, nicht sowieso schon längst ein Mitglied der EU? Zwar nicht formell und nicht auf dem Papier und nicht gemäss irgendeinem offiziell unterzeichneten Staatsvertrag, aber umso mehr ganz faktisch und real. Denn wo, bitte, unterscheidet sich die Schweiz in der gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Alltagsrealität noch grundsätzlich von irgendeinem der EU-Länder? Ist nicht alles schon längst – EU hin oder her – nichts anderes als ein riesiger, nicht nur europaweit, sondern weltweit nach sich immer ähnlicher werdenden Regeln und Gesetzmässigkeiten funktionierender Machtkoloss genannt Kapitalismus? Fühlen sich Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Apartheid in der Schweiz bloss deshalb, weil wir kein EU-Land sind, für die davon Betroffenen weniger schmerzvoll an als in Italien, Frankreich oder Griechenland? Tut es einer Schweizer Familie, die nach 20 Jahren infolge einer massiven Mietzinserhöhung ihre liebgewordene Wohnung am Stadtrand verlassen muss, weniger weh, als es einer Familie in Spanien oder Portugal wehtut, wenn sie vom gleichen Schicksal betroffen ist? Fressen sich die Bagger, Betonflächen und Bürohäuser hierzulande weniger aggressiv als in Belgien, Dänemark oder den Niederlanden bis in die letzten noch unüberbauten Gebiete vor? Nehmen die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen den Reichsten und Ärmsten hierzulande weniger schnell zu als in Grossbritannien, Lettland oder Österreich? Und ist es nicht so, dass selbst die letzten Schweizer «Eigenheiten» im Bereich öffentlicher Dienstleistungen und sozialer Sicherheiten, die uns bisher noch vom übrigen Europa unterschieden haben, ebenfalls im Begriffe sind, wegzuschmelzen wie ein paar letzte Reste Schnee im Frühling, nicht zuletzt deshalb, weil – Gipfel der Absurdität – ausgerechnet jene, die sich als die vermeintlichen «Retter» schweizerischer «Selbstbestimmung» im Kampf gegen die «Mächte von aussen» aufspielen, die kapitalistische Keule so genannter «Effizienzsteigerung» gar noch um einiges unerbittlicher sausen lassen als ihre politischen «Gegner».
   Dass die «Rechte» dieses falsche Spiel um eine Frage, die faktisch längst beantwortet ist, munter weitertreibt, ist ja – angesichts der daraus resultierenden Abstimmungserfolge – durchaus verständlich. Die «Linke» aber täte wohl gut daran, sich aus der Scheindiskussion über mögliche Vor- und Nachteile eines EU-Beitritts so rasch wie möglich zu verabschieden und sich auf jene politischen Fragen und Themen zu konzentrieren, die tatsächlich von Bedeutung sind für das Wohlergehen der Menschen, nicht innerhalb oder ausserhalb bestimmter Grenzen, seien es schweizerische oder europäische, sondern über alle Grenzen hinweg in einer Welt, in der wir alle im gleichen Boot sitzen. Denn, wie es Martin Luther King dereinst so treffend formulierte: «Entweder lernen wir, als Brüder und Schwestern miteinander zu überleben, oder aber, wir werden als Narren miteinander untergehen.»

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