Freitag, 15. November 2013

Alles eine Frage des Wirtschaftssystems

«Ein Verbot der Prostitution führt nicht dazu, dass diese nicht mehr stattfindet – es gibt sie weiterhin, nur eben im Verborgenen, und dort ist es noch viel schwieriger, die Frauen zu schützen, denn kriminalisierte Frauen werden noch ausbeutbarer», so Rebecca Angelini, Mitarbeiterin der Zürcher Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) in der «Wochenzeitung» vom 19.9.2013. Die gleiche Ansicht vertrat Susanne Kahl-Passoth, Direktorin des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg, vor zwei Tagen in der Sendung «sternTV» und sprach sich ebenfalls gegen ein Verbot der Prostitution aus, wie es zum Beispiel in Schweden bereits seit 1999 existiert.
   Natürlich haben Rebecca Angelini, Susanne Kahl-Passoth und viele andere Frauen, die ebenfalls vor einem Verbot der Prostitution warnen, weil das die Situation der betroffenen Frauen nur noch weiter verschlimmern und sie noch grösserer Gewalt und Ausbeutbarkeit aussetzen würde, grundsätzlich Recht. Wenn dann aber, um gegen ein Prostitutionsverbot zu argumentieren, gar noch behauptet wird, die betroffenen Frauen hätten ja grundsätzlich ein «Recht» darauf, diesen Beruf auszuüben, dann frage ich mich schon, wie weit die Akzeptanz der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung denn schon vorangeschritten sein muss, dass selbst Frauen, welche in ihrer täglichen Arbeit das ganze Ausmass an mit Prostitution verbundener Gewalt und Menschenverachtung mitbekommen und ihre eigene politische Einstellung durchaus als «kritisch«, «fortschrittlich» und «emanzipiert» bezeichnen würden, dennoch anderen Frauen nicht das «Recht» darauf absprechen möchten, ihre Körper gegen Geld zu verkaufen. «Es gibt viele Frauen, die sich – den Umständen entsprechend – freiwillig für die Sexarbeit entscheiden. Sie loten ihre Möglichkeiten aus und entscheiden sich bewusst für dieses Gewerbe, weil es ihnen ein ordentliches Einkommen erlaubt» - so die bereits oben zitierte FIZ-Mitarbeiterin Rebecca Angelini.
   Ja, wenn man davon ausgeht, dass die Welt nun halt mal so ist, wie sie ist, und sich höchstwahrscheinlich auch nicht so bald ändern wird, dann wird jeder noch so verzweifelte Versuch, jede noch so brutale Selbsterniedrigung zum Zwecke des nackten Überlebens früher oder später zum «legitimen Menschenrecht», das in Anspruch zu nehmen doch niemandem verwehrt werden könne.
   Natürlich greift die Forderung nach einem Prostitutionsverbot viel zu kurz. Natürlich wäre das reine Symptombekämpfung. Natürlich würde das unter Umständen die Situation der betroffenen Frauen zusätzlich noch viel schlimmer machen, als sie es jetzt schon ist. Aber die Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis kann doch nicht sein, dass man sich damit abfindet und alle Kräfte nur noch darauf ausrichtet, wenigstens die allerschlimmsten Auswüchse ein ganz klein wenig abzumildern. Gleichzeitig und noch viel deutlicher und radikaler müsste doch die Forderung nach der Verwirklichung jener globalen gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse erhoben werden, in denen es gar nicht mehr nötig ist, dass irgendwo auf der Welt eine Frau vor die Wahl gestellt wird, entweder sich und ihre Familie im Elend versinken zu lassen, oder aber ihre Heimat zu verlassen, sich all den mit Prostitution und Frauenhandel verbundenen Gefahren auszusetzen und ihren Körper täglicher Ausbeutung und Zerstörung preiszugeben.
   Prostitution und Menschenhandel sind nicht die einzigen, aber vielleicht die grausamsten Auswirkungen des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems, welches dazu führt, dass sich an den einen Orten der Welt immer mehr Macht, Geld und Luxus anhäufen, während gleichzeitig an vielen anderen Orten dieser gleichen Welt immer mehr Menschen gezwungen sind, mit immer verzweifelteren Mitteln um ihr blosses Überleben zu kämpfen. Eine gerechte Welt, in der alle Menschen unabhängig davon, wo sie geboren wurden, die gleichen Chancen auf ein menschenwürdiges Dasein haben, ist keine Utopie. Es ist die einzige logische und vernünftige Alternative zu dieser aus allen Fugen geratenen heutigen Wirklichkeit, die wir als das «einzig Mögliche» und «Normale» zu sehen gewohnt sind.
   Und wenn dann eines Tages auch in Ungarn, in Weissrussland, in Nigeria und in Kolumbien jede Frau die Möglichkeit hat, mittels einer menschenwürdigen beruflichen Tätigkeit ihren Lebensunterhalt zu sichern, dann kann ich mir nur schwer vorstellen, dass sich dann noch viele von ihnen freiwillig und bewusst dafür entscheiden werden, mitten im Winter in irgendeiner europäischen Grossstadt halbnackt auf der Strasse zu stehen und nur darauf zu warten, sich vom nächstbesten Mann verprügeln, sich die Haut zerschneiden oder sich ihre Zähne ausschlagen zu lassen.

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